Inhalt
Das Geheimnis der schönen Antonia
Dr. Leon Laurin stand wie festgewachsen auf einer belebten Straße in der Münchener Innenstadt, während er seine Frau Antonia, die vor einem Café auf der anderen Straßenseite saß, nicht aus den Augen ließ. Seit mehr als siebzehn Jahren waren sie miteinander verheiratet, hatten vier Kinder, führten, jedenfalls seiner Ansicht nach, eine glückliche Ehe. Und nun sah er sie zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit mit ihrem Jugendfreund Ingo Ewert in sehr vertrautem und angeregtem Gespräch – und auch dieses Mal, daran zweifelte er nicht, würde sie die Begegnung zu Hause ihm gegenüber nicht erwähnen.
Er war der Ansicht gewesen, die Eifersucht seiner frühen Jahre längst überwunden zu haben, nun musste er feststellen, dass er einem Irrtum erlegen war. Am liebsten hätte er Ingo Ewert – Dr. Ingo Ewert, Leiter der Kinderklinik Dr. Ewert – direkt zur Rede gestellt. Oder noch besser: ihn am Kragen gepackt und geschüttelt und Auskunft darüber verlangt, wie er dazu kam, am helllichten Tag mit seiner, Leons, Ehefrau in einem Café zu sitzen und sich allem Anschein nach gut zu unterhalten. Jetzt griff er sogar nach ihrer Hand und drückte sie! Leon hatte Mühe, an sich zu halten.
Als er die beiden vor zwei Wochen das erste Mal zusammen gesehen hatte, war er noch überzeugt gewesen, Antonia werde ihn mit den Worten empfangen: »Rate mal, wen ich heute getroffen habe!«
Aber nichts Dergleichen war geschehen, kein Wort hatte sie gesagt, sie hatte Ingo Ewert nicht einmal erwähnt. Dabei wusste er ja nur zu gut, dass Ingo früher einmal bis über beide Ohren in Antonia verliebt gewesen war. Allem Anschein nach war er es immer noch.
Er musste sie zur Rede stellen, er brauchte Gewissheit. Aber vielleicht war alles ganz harmlos, und er sah Gespenster. Dann würde sie ihn auslachen, und er stünde da wie der letzte Depp. War es also doch besser, ruhig abzuwarten, bis Antonia von sich aus auf ihn zukam, um mit ihm über Ingo zu sprechen? Aber was würde sie ihm dann sagen? ›Ich verlasse dich, Leon, es tut mir leid, aber ich habe erkannt, dass Ingo meine einzige wahre Liebe ist‹?
Seine Augen brannten. Er war ein sehr erfolgreicher Arzt und der geschätzte und geachtete Chef der Kayser-Klinik vor den Toren Münchens, die er einige Zeit nach der Hochzeit mit Antonia von seinem Schwiegervater Professor Joachim Kayser übernommen hatte. Seine Arbeit war ihm wichtig, aber alles, was er in seinem Leben erreicht hatte, zählte nichts angesichts der Aussicht, Antonia zu verlieren, seine Liebe, seinen Halt.
»Führst du Selbstgespräche?«
Er fuhr herum. »Schon fertig?«, fragte er.
»Klar, ich habe doch nur ein Pfund Kaffee gebraucht.«
Er war mit Sandra Brink, seiner Schwester, in die Innenstadt gefahren, weil er ihr helfen sollte, ein Geburtstagsgeschenk für Kyra, seine jüngste Tochter zu kaufen. Sie wurde elf. Sie hatten eine sehr schöne Smartphone-Hülle gefunden und noch ein niedliches T-Shirt mit Aufdruck, Kyra liebte solche T-Shirts. Sie war sein heimlicher Liebling, weil sie Antonia so ähnlich sah, deshalb wusste er über ihre Wünsche ziemlich gut Bescheid.
»Also, wieso führst du Selbstgespräche?«
»Das tue ich überhaupt nicht, du siehst Gespenster!«
Sandra betrachtete ihn prüfend. Da er verhindern wollte, dass sie Antonia und ihren Jugendfreund auf der anderen Straßenseite entdeckte, setzte er sich langsam in Bewegung und lotste sie aus der Gefahrenzone.
»Ich fand dich letzte Woche schon verändert, du wirkst so nervös. Habt ihr Ärger zu Hause?«
Einen kurzen Moment lang war er versucht, ihr zu erzählen, was ihm zu schaffen machte, aber dann entschied er sich doch dagegen. Sandra würde ihm raten, mit Antonia zu reden, was zweifellos vernünftig gewesen wäre, aber er wusste, er würde es nicht tun. Er würde nicht zugeben, dass er schon mehrmals nachts aufgewacht war, weil er geträumt hatte, dass Antonia ihn und die Kinder verließ …
»Ich sag’s doch: Du siehst Gespenster.« Er schaffte es, seine Stimme fest klingen zu lassen. Den skeptischen Blick seiner Schwester übersah er geflissentlich.
Sie näherten sich bereits seinem Wagen, als Sandra plötzlich stehen blieb. »Was ist denn mit der Frau los?«
Leon folgte ihrem Blick. Die junge Frau, die sich ihnen mit langsamen Schritten näherte, war unsicher auf den Beinen, sie torkelte, musste sich mehrfach an einer Hauswand abstützen. Sie war schlank, hatte feine helle Haare, die ihr bis zum Kinn reichten. Auch ihre Haut war hell. Sie trug einen kurzen Rock mit einem T-Shirt, dazu Turnschuhe.
»Denkst du, sie ist betrunken?«, fragte Sandra weiter.
»Möglich, aber ich glaube es eigentlich nicht. Warte bitte einen Moment, Sandra.« Leon eilte auf die junge Frau zu, doch bevor er sie erreichte, sackte sie in sich zusammen und schlug auf dem Gehweg auf. Er kniete neben ihr nieder, schlug ihr sanft auf die Wangen. »Hallo«, sagte er, »ich bin Arzt, bitte sagen Sie mir, ob Sie mich hören können.«
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ihre Lider zu flattern begannen und sie die Augen aufschlug. Ihr Blick war leer, sie schien nicht zu wissen, wo sie sich befand.
»Ich bin Dr. Laurin«, sagte Leon. »Bitte, sagen Sie mir, wie Sie heißen.«
Sie schien nachdenken zu müssen, aber dann kam ihre Antwort doch ganz klar und verständlich. »Eva Maischinger«, sagte sie. »Mir … mir ist plötzlich so übel geworden.«
»Sie müssen gründlich untersucht werden. Ist Ihnen das schon einmal passiert?«
»Ja, schon, aber da war es nicht so schlimm wie heute.«
Mittlerweile hatten sich die üblichen Neugierigen eingefunden, aber die ersten gingen bereits weiter, als klar wurde, dass es nichts Aufregendes zu sehen geben würde.
Leon sah, dass Sandra ihr Telefon in der Hand hatte und ihn fragend ansah. Er nickte und hörte, wie sie einen Krankenwagen rief. Die Kayser-Klinik war in der Nähe, er würde Eva Maischinger also dort wiedersehen, nahm er an.
»Ich glaube, ich kann jetzt aufstehen und nach Hause gehen«, sagte die junge Frau.
»Sie bleiben schön liegen. Der Krankenwagen kommt gleich und bringt Sie in meine Klinik, dort untersuchen wir Sie und finden heraus, warum Sie ohnmächtig geworden sind.«
»Nein, ich … bitte, ich möchte nicht in eine Klinik, es ist ja schon alles wieder in Ordnung!«
»Danach sieht es aber nicht aus. Sie sind bleich, Sie zittern, und eben war Ihnen noch übel.«
Sie wollte erneut widersprechen, doch das sich rasch nähernde Martinshorn des Rettungswagens ließ sie verstummen. Leon erklärte den Sanitätern die Lage und bat sie, Eva Maischinger in die Kayser-Klinik zu bringen.
Als der Rettungswagen sich entfernte, wieder mit eingeschaltetem Martinshorn, rief Leon seinen Kollegen Eckart Sternberg an, von dem er wusste, dass er Nachtdienst in der Notaufnahme hatte. »Bist du schon in der Klinik, Eckart?«
»Gerade eingetroffen, was auch gut ist, denn wir haben sehr viel zu tun.«
Leon berichtete ihm von Eva Maischinger. »Ich komme noch mal vorbei. Wenn ihr so überlastet seid, kümmere ich mich selbst um die Patientin.«
»Das