Sir Arthur Conan Doyle

Die Abenteuer des Sherlock Holmes


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      „Warum halten Sie es plötzlich so furchtbar eilig, zu mir zu kommen?“ fragte Sherlock Holmes, legte die Fingerspitzen aneinander und blickte nach der Decke hinauf.

      Wieder zeigte sich Staunen und Befremdung auf dem sonst ziemlich nichtssagenden Gesicht der jungen Dame.

      „Ja, ich stürzte von Hause fort,“ sagte sie, „denn ich ärgerte mich über die Gleichgültigkeit, mit welcher Herr Windibank — mein Vater — die ganze Sache aufnahm. Er wollte nicht auf die Polizei, wollte nicht zu Ihnen, und da er gar nichts that und dabei blieb, die Sache habe wenig auf sich, wurde ich schliesslich böse, nahm Hut und Mantel und kam geradeswegs zu Ihnen.“

      „Ihr Vater?“ fragte Holmes, „gewiss Ihr Stiefvater — da Sie nicht seinen Namen tragen.“

      „Ja, mein Stiefvater. Ich nenne ihn Vater, und doch klingt das komisch, denn er ist nur fünf Jahre und zwei Monate älter als ich.“

      „Lebt Ihre Mutter?“

      „Die Mutter lebt und ist wohlauf. Sehr entzückt war ich nicht, Herr Holmes, als sie so bald nach Vaters Tode wieder heiratete, und zwar einen Mann, der fast fünfzehn Jahre jünger ist als sie selbst. Mein Vater war Flaschner in Tottenham Court-road und hinterliess ein hübsches Geschäft, das die Mutter mit Herrn Hardy, dem ersten Gehilfen, fortführte. Als aber Herr Windibank kam, musste sie das Geschäft verkaufen, denn als Weinreisender stand er auf einer höheren Gesellschaftsstufe. Sie bekamen viertausend siebenhundert Pfund Sterling für die Firma; mein Vater hätte bei Lebzeiten weit mehr bekommen.“

      Statt dass Sherlock Holmes, wie ich erwartete, bei dieser breiten, abschweifenden Erzählung ungeduldig wurde, hörte er mit der grössten Aufmerksamkeit zu.

      „Stammt Ihr kleines Einkommen aus dem Geschäft?“ fragte er.

      „O nein, ich erbte es von meinem Onkel Ned in Auckland. Es sind Neuseeländer Aktien, die 4½ % tragen. Die Hinterlassenschaft betrug zweitausend fünfhundert Pfund, aber ich habe nur die Zinsen davon.“

      „Bitte, erzählen Sie weiter,“ meinte Holmes. „Da Sie die hübsche Summe von hundert einnehmen und noch etwas dazu verdienen, reisen Sie gewiss manchmal zum Vergnügen und geniessen Ihr Leben. Mir scheint, eine Dame kann mit einem Einkommen von sechzig ganz gut leben.“

      „Ich käme mit weit weniger aus, Herr Holmes, doch begreifen Sie wohl, dass ich, solange ich zu Hause bin, den Eltern nicht zur Last fallen möchte, und so haben sie die Verfügung über mein Geld, bis ich einmal von ihnen fortkomme. Selbstverständlich nur bis dahin. Herr Windibank zieht meine Zinsen vierteljährlich ein und giebt der Mutter das Geld, denn ich komme mit dem, was ich an der Schreibmaschine verdiene, ganz bequem aus. Ich erhalte zwei Pence für die Seite und bringe meist fünfzehn bis zwanzig Seiten am Tage fertig.“

      „Sie haben mir Ihre Lage sehr klar dargelegt,“ sagte Holmes. „Dieser Herr ist mein Freund, Dr. Watson, vor dem Sie offen reden können, wie vor mir selbst. Bitte, erzählen Sie uns von Ihrer Bekanntschaft mit Herrn Hosmer Angel.“

      Fräulein Sutherland errötete und zupfte erregt an den Fransen ihrer Jacke. „Ich sah ihn zuerst auf dem Ball der Gastechniker,“ sagte sie. „Bei Lebzeiten des Vaters schickten sie uns Karten dazu, und auch nach seinem Tode luden sie uns ein. Herr Windibank wollte uns nicht auf den Ball gehen lassen; er lässt uns nie gern in Gesellschaft gehen. Ganz wütend kann er sich ärgern, wenn ich auch nur einen Ausflug der Sonntagsschule mitmachen möchte. Diesmal aber setzte ich mir in den Kopf, auf den Ball zu gehen; was hatte er denn für ein Recht, mir das zu verbieten? Er erklärte, die Gesellschaft passe nicht für uns, obgleich wir nur Freunde meines Vaters dort trafen. Weiter behauptete er, ich habe nichts anzuziehen, und doch ist mein lila Plüschkleid noch kaum aus dem Schrank gekommen. Aus der Sache wäre nichts geworden, wenn mein Stiefvater nicht plötzlich eine Geschäftsreise nach Frankreich hätte machen müssen. Nun gingen wir, Mutter und ich, mit Herrn Hardy, unserm früheren Obergesellen, auf den Ball, und dort war es, wo ich Herrn Hosmer Angel traf.“

      „Vermutlich zeigte sich Herr Windibank bei seiner Rückkehr aus Frankreich sehr ungehalten?“

      „Durchaus nicht, er war gar nicht böse. Er lachte, zuckte die Achseln und meinte, es sei ganz unnütz, Frauen etwas abzuschlagen, denn — sie thäten doch, was sie wollten.“

      „So, so. Sie trafen also auf dem Ball der Gastechniker einen Herrn, Namens Hosmer Angel, wenn ich recht verstehe.“

      „So ist’s. Ich lernte ihn an jenem Abend kennen, und er besuchte uns am folgenden Tag, um sich nach unserm Befinden zu erkundigen, und hernach trafen wir ihn — heisst das, Herr Holmes, ich traf ihn zweimal — um mit ihm spazieren zu gehen; dann aber kam der Vater zurück, und Herr Angel konnte nicht mehr zu uns ins Haus kommen.“

      „Nicht?“

      „Ja, wissen Sie, Vater liebt dergleichen nicht. Ginge es nach ihm, so würde er nie Gäste empfangen; er behauptet, eine Frau müsse mit ihrer engsten Familie zufrieden sein. Auch ich gebe das zu und sagte schon oft meiner Mutter, dass mir eben diese engste Familie noch fehle.“

      „Was wurde nun mit Herrn Hosmer Angel? Versuchte er es nicht, Sie wiederzusehen?“

      „Der Vater sollte acht Tage später abermals nach Frankreich reisen, und so schrieb Hosmer, es sei wohl am besten, wenn wir bis dahin einander fern blieben. Das Schreiben stand uns ja inzwischen frei, und er schrieb täglich. Ich nahm die Briefe am Morgen in Empfang, so dass der Vater nichts davon erfuhr.“

      „Waren Sie zu der Zeit mit dem Herrn verlobt?“

      „Jawohl, Herr Holmes, wir verlobten uns auf unserm ersten Spaziergang. Hosmer — Herr Angel war Kassier eines Geschäftes in Leadenhallstreet — und ...“

      „In welchem Geschäft?“

      „Leider weiss ich das nicht.“

      „Wo wohnte er denn?“

      „Er schlief im Geschäftshaus.“

      „Und Sie haben seine Adresse nicht?“

      „Nein — ich weiss nur, dass er in Leadenhallstreet wohnte.“

      „Wohin adressierten Sie Ihre Briefe?“

      „Postlagernd Leadenhallstreet-Post. Ins Geschäft sollte ich nicht adressieren, weil er behauptete, die andern Angestellten würden ihn hänseln, dass er Briefe von einer Dame erhalte. Ich wollte ihm mit der Maschine schreiben, wie er es selbst that, doch mochte er nichts davon wissen und erklärte, geschriebene. Briefe seien ihm lieber, sie kämen ihm viel natürlicher vor, während er bei den andern das Gefühl habe, als träte eine Maschine zwischen uns. Sie sehen daraus, wie sehr er mich liebte, und wie feinfühlig er selbst in Kleinigkeiten war.“

      „Ja, es lässt tief blicken,“ meinte Holmes. „Ich lege von jeher besonderen Wert auf solche kleinen Umstände. Erinnern Sie sich vielleicht anderer geringfügiger Merkmale bei Herrn Hosmer Angel?“

      „Er war sehr schüchtern und ging lieber abends als am Tage mit mir aus, weil er es nicht leiden konnte beobachtet zu werden. Er benahm sich sehr wohlerzogen und zurückhaltend; seine Stimme war schwach, und er erzählte mir, er habe als Kind an geschwollenen Mandeln gelitten, wovon ihm eine Schwäche in den Stimmbändern zurückgeblieben sei. Auf seine Kleidung hielt er viel und sah stets nett und sauber aus; er hatte, wie ich, schwache Augen und trug dunkle Gläser zum Schutz.“

      „Und was geschah, als Ihr Stiefvater, Herr Windibank, abermals nach Frankreich reiste?“

      „Da kam Hosmer wieder ins Haus und schlug mir vor, noch vor Vaters Rückkehr zu heiraten. Er nahm die Sache sehr ernst, legte meine Hände auf das Testament und liess mich schwören, ihm treu zu sein, komme, was da wolle. Meine Mutter meinte, er könne diesen Schwur mit Recht verlangen, es sei nur ein Beweis seiner heissen Liebe. Der Mutter hat er es gleich bei der ersten Begegnung angethan, sie mochte ihn fast noch lieber als ich. Als die beiden von der nahe bevorstehenden Hochzeit zu sprechen anfingen, meinte ich, wir sollten damit auf den Vater warten. Doch sie erklärten, wir brauchten uns nicht um ihn zu kümmern,