zu müssen, da er ja nur wenige Jahre älter ist als ich; aber da ich keine Heimlichkeiten leiden mag, so schrieb ich an ihn nach Bordeaux und adressierte den Brief an die französische Firma — doch erhielt ich dieses Schreiben am Hochzeitsmorgen zurück.“
„Demnach kam es nicht in seine Hände?“
„Nein, denn er war schon wieder nach England abgereist.“
„Das traf sich allerdings höchst ungeschickt! Wurden Sie in der Kirche getraut?“
„Ja, in aller Stille. Die Trauung sollte in der St. Saviours-Kirche stattfinden und das Frühstück danach im St. Pancras-Hotel. Hosmer holte uns im Wagen ab und liess Mutter und mich einsteigen; er selbst setzte sich in eine Droschke, die einzige, die gerade zur Hand war. Wir langten zuerst an der Kirche an und warteten auf Hosmers Droschke, die bald vorfuhr. Doch — niemand stieg aus, und als der Kutscher vom Bock herabkam und den Schlag öffnete, sass niemand im Wagen! Der Kutscher begriff nicht, was aus dem Fahrgast geworden war, da er ihn selbst hatte einsteigen sehen. Das alles geschah vorigen Freitag, Herr Holmes, und seitdem habe ich keine Ahnung, was aus meinem Bräutigam geworden ist.“
„Mir scheint, mein Fräulein, Ihnen wurde übel mitgespielt.“
„Ach nein! Hosmer meinte es viel zu gut mit mir, um mich so verlassen zu können. Noch am Hochzeitsmorgen bat er mich, ihm immer treu zu bleiben, und sollte uns auch ein ganz unerwartetes Schicksal trennen, so dürfe ich nicht vergessen, dass ich ihm mein Wort gegeben habe; früher oder später würde er seine Rechte geltend machen. Das klang recht sonderbar am Hochzeitstage, aber durch das Vorgefallene erhalten Hosmers Worte eine ganz besondere Bedeutung.“
„Allerdings. Ihrer Meinung nach muss ihn irgend ein Unfall betroffen haben?“
„Ja, Herr Holmes. Er muss wohl irgend eine Gefahr geahnt haben, sonst hätte er nicht so gesprochen. Seine Ahnung ist wirklich eingetroffen.“
„Sie haben wohl keine Vorstellung, was er befürchtete?“
„Gar keine.“
„Noch eine Frage. Wie nahm Ihre Mutter die Sache auf?“
„Sie war ärgerlich und meinte, ich solle von der ganzen Geschichte schweigen.“
„Sprachen Sie mit Ihrem Vater davon?“
„Ja, und er schien meiner Ansicht zu sein, dass Hosmer etwas zugestossen sein müsse und ich wieder von ihm hören würde. Was könnte ein Mann für ein Interesse daran haben, meinte er, mich bis an die Kirchthür zur Trauung zu locken, um mich dann zu verlassen? Hätte er mir Geld abgeborgt, oder beim Ehekontrakt mein Vermögen auf sich übertragen lassen, dann wäre vielleicht darin ein Grund zu suchen gewesen; Hosmer aber zeigte sich gar nicht interessiert, nicht einen Heller wollte er von mir haben. Was mag nur geschehen sein? Warum schrieb er nicht ein einziges Wort? Ich werde noch verrückt! Nachts schliesse ich kein Auge!“ Sie zog ein kleines Taschentuch aus dem Muff und schluchzte heftig hinein.
„Ich werde die Sache näher ins Auge fassen,“ sagte Holmes, sich erhebend, „und bezweifle nicht, dass wir sie ergründen. Verlassen Sie sich auf mich, mein Fräulein, und grübeln Sie nicht weiter. Versuchen Sie vor allem, Herrn Hosmer Angel zu vergessen, wie er scheinbar auch Sie vergessen hat.“
„Demnach glauben Sie nicht, dass ich ihn wiedersehen werde?“
„Ich bezweifle es.“
„Was mag ihm denn zugestossen sein?“
„Erlassen Sie mir die Antwort. Am liebsten hätte ich eine genaue Personalbeschreibung von ihm und alle Briefe, die Sie mir anvertrauen können.“
„Ich habe bereits am vorigen Sonnabend eine Anzeige im ,Chronicle‘ eingerückt,“ erwiderte sie. „Hier ist das Blatt, und hier sind vier Briefe von ihm.“
„Danke. Und nun, bitte, Ihre Adresse.“
,,Lyon-Place 31, Camberwell.“
„Wenn mir recht ist, sagten Sie, dass Sie Herrn Angels Adresse nie besessen haben. Wo ist das Geschäft Ihres Vaters?“
„Er reist für Westhouse & Marbank“, das grosse Wein-Importgeschäft in Fenchurch-Street.“
„Ich danke Ihnen. Sie haben mir die Sache sehr klar auseinandergesetzt. Lassen Sie die Papiere hier und beherzigen Sie meinen Rat. Betrachten Sie die ganze Begebenheit wie ein versiegeltes Buch, und lassen Sie sich nicht länger davon anfechten.“
„Sie meinen es gut mit mir, Herr Holmes, das aber kann ich nicht versprechen. Hosmer bleibe ich treu, und er soll mich bereit finden, wenn er zurückkehrt.“
Trotz des lächerlichen Hutes und ihres Puppengesichtes verlieh dieser kindliche Glaube dem Wesen unserer Besucherin einen gewissen Adel, welcher Achtung heischte.
Sie legte ihr Päckchen Papiere auf den Tisch und entfernte sich mit dem Versprechen, wiederzukommen, sobald sie gewünscht würde.
Still in sich gekehrt sass Sherlock Holmes eine Weile da, streckte die Beine aus, legte die Fingerspitzen aneinander und blickte hinauf an die Decke. Dann nahm er die alte Thonpfeife, seine treue Ratgeberin, wie er sie nannte, vom Gesimse, stopfte sie und lag bald, von dichten Rauchwolken umgeben, mit dem Ausdruck unendlicher Müdigkeit und Schlaffheit in seinem Stuhl.
„Interessante Studie — das Mädchen,“ bemerkte er. „Sie selbst ist interessanter als ihr Erlebnis, das, nebenbei gesagt, ein ziemlich abgedroschenes ist. Du findest ähnliche Fälle in meinen Verzeichnissen vom Jahre 1877 in Andover, und etwas Gleichartiges trug sich im vorigen Jahr im Haag zu. Ist auch der Grundgedanke nicht neu, so waren es doch ein paar Nebenumstände. Aber das Mädchen selbst ist eine Studie.“
„Du musst wieder vieles an ihr wahrgenommen haben, das für mich unsichtbar blieb,“ bemerkte ich.
„Sage lieber, das du nicht beachtet hast! Du hast eben nicht hingesehen, wo du solltest. Bringt man dich denn nie dahin, die Wichtigkeit der Aermel zu würdigen, oder die vielsagende Beschaffenheit der Fingernägel, oder wichtige Schlüsse aus einem Stiefelknopf zu ziehen? Sag’ mir einmal, was hast du an der äusseren Erscheinung dieses Mädchens wahrgenommen?“
„Nun, sie trug einen schiefergrauen grossen Hut mit einer ziegelroten Feder. Ihre schwarze Jacke war mit Perlen benäht und hatte einen schmalen Pelzbesatz. Das Kleid war von dunkler Kaffeefarbe, und purpurroter Sammet verzierte Hals und Aermel. Ihre grauen Handschuhe waren am rechten Zeigefinger zerrissen. Die Stiefel habe ich nicht angesehen. Sie trug kleine, runde und herabhängende Ohrringe und machte im allgemeinen den Eindruck einer anständigen und wohlhabenden Person des gewöhnlichen Mittelstandes.“
Sherlock Holmes klatschte leise in die Hände und schüttelte sich vor Lachen.
„Auf Ehre, Watson, du machst brillante Fortschritte! Gut — sehr gut. Das Wichtigste hast du freilich übersehen, hast aber Methode bewiesen und einen scharfen Blick für Farben gezeigt. Traue nur nie allgemeinen Eindrücken, mein Junge, auf die Einzelheiten muss man achten. Mein erster Blick gilt stets dem Aermel einer Frau. Bei dem Manne kommt es vielleicht noch mehr auf die Kniee der Hose an. Wie, du bemerktest, hatte das Mädchen Sammet, an den Aermeln, in Bezug auf Eindrücke und Spuren ein höchst nützliches Material. Die doppelte Linie über dem Handgelenk, wo die Maschinenschreiberin gegen den Tisch drückt, trat prächtig hervor. Die Handnähmaschine hinterlässt ähnliche Streifen, aber nur am linken Arm und auf der Seite, während sich diese gerade über den breitesten Teil hinzogen. Dann blickte ich in ihr Gesicht, und da ich den Druck eines Klemmers zu beiden Seiten ihrer Nase wahrnahm, wagte ich eine Bemerkung über Kurzsichtigkeit in Verbindung mit Maschinenschreiben, welche sie sichtlich überraschte.“
„Mich nicht minder.“
„Die Sache lag doch klar auf der Hand. Sodann fiel mir auf, dass sie zwei verschiedene Stiefel trug; der eine hatte eine verzierte Kappe, der andere nicht. An dem einen hatte sie von fünf Knöpfen nur die zwei untersten zugeknöpft, beim andern nur den ersten, dritten und fünften. Verlässt eine sonst sorgsam gekleidete, junge Dame das Haus mit zweierlei nur halbzugeknöpften Stiefeln, so gehört nicht viel, dazu,