Fritz B. Simon

Zirkuläres Fragen


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zur Theorie. Wie jeder andere Handwerker auch muß er direkten und schnellen Zugriff auf die Werkzeuge haben, die er aktuell braucht. Und welche er benötigt, kann von Sekunde zu Sekunde wechseln.

      Dieser Tatbestand spiegelt sich in der Struktur dieses Buches. Der Ablauf der jeweiligen Sitzungen bestimmt die behandelten Themen und Frageformen, das heißt, die einzelnen Themen werden dann und dort behandelt, wo sie praktisch relevant werden. Da der Abdruck kompletter Sitzungen den Umfang des Buches sprengen würde, haben wir in sich geschlossene Abschnitte ausgewählt. Sie sind so ausführlich, wie es uns zur Illustration einer Fragestrategie oder einer Familiendynamik nötig erschien. Wenn am Beispiel der einen Familie ein Thema abgehandelt wurde, haben wir die Behandlung der analogen Themen bei der nächsten Familie nicht abgedruckt. Wie beim Zusammensetzen eines Puzzles werden von Sitzung zu Sitzung einzelne Bausteine scheinbar ungeordnet aneinander gefügt. Erst im Laufe der Zeit fügt sich dann das Ganze (so hoffen wir zumindest) zu einem Gesamtbild. Die thematische Gliederung des Buches folgt dabei thematisch dem idealtypischen Ablauf einer Therapiesitzung. Um die unvermeidliche Verwirrung des Lesers in erträglichen Grenzen zu halten, haben wir die in den einzelnen Kapiteln behandelten Themen durch die Stichworte und den Namen der jeweiligen Familie gekennzeichnet. Auf diese Weise kann sich der Leser entscheiden, sich entweder an den genannten Inhalten zu orientieren oder aber einer Falldarstellung von Anfang bis Ende zu folgen. Die Transkripte sind redaktionell mit wenigen Einschränkungen die wörtliche Wiedergabe dessen, was Therapeuten und Klienten sagten. Redaktionell wurden sie nur soweit geglättet, wie es der Lesbarkeit wegen nötig erschien (d. h. aus „nö“ wurde „nein“, manche „Ähs“ und „Ohs“ wurden gekürzt). Dennoch sollte klar sein, daß jede rein sprachliche Wiedergabe eine Reduktion der Komplexität menschlicher Kommunikation darstellt, da die non- und paraverbale Kommunikation nicht angemessen dokumentiert werden kann.

      Am Ende des Buches haben wir, um die in den Fallbeispielen illustrierten Methoden und Techniken der systemischen Therapie zusammenzufassen, schematisch darzustellen versucht, wie eine idealtypische Sitzung abläuft, welche Frageformen dem Therapeuten zur Verfügung stehen und welche Interventionsmöglichkeiten er hat.

      Bleibt zum Schluß noch anzumerken, daß die Namen und persönlichen Daten der Patienten und Familien so geändert wurden, daß ihre Anonymität gesichert ist.

      1Dieser Begriff wurde ursprünglich vom Mailänder Team um Mara Selvini Palazzoli geprägt, um damit den Typ von Fragen zu bezeichnen, bei dem ein Familienmitglied über zwei andere Auskunft geben soll [vgl. Selvini Palazzoli, M., L. Boscolo, G. Cecchin, G. Prata (1981): Hypothetisieren – Zirkularität – Neutralität: Drei Richtlinien für den Leiter der Sitzung. Familiendynamik 6, S. 123–139]. In der Literatur wird er in uneinheitlicher Weise gebraucht: Neben der genannten Weise wird er auch als Oberbegriff für systemische Interviewtechniken im allgemeinen verwendet [vgl. Penn, P. (1983): Zirkuläres Fragen. Familiendynamik 8, S. 198–220; Tomm, K. (1994): Die Fragen des Beobachters. Heidelberg (Carl-Auer)]. Hier soll er gewissermaßen als Markenzeichen des systemischen Therapeuten genutzt werden, d.h. als umfassende Bezeichnung für systemische Interviewtechniken und nicht nur für einen einzelnen Fragetypus.

      2Simon, F. B. (1988/93): Unterschiede, die Unterschiede machen. Klinische Epistemologie – Grundlage einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik. Frankfurt (Suhrkamp), 5. Aufl. 2011. Simon, F. B. (1995): Die andere Seite der Gesundheit. Ansätze einer systemischen Krankheits- und Therapietheorie. Heidelberg (Carl-Auer), 3. Aufl. 2012.

      I. DAS INTERVIEW

      2. Die Bedeutung der Therapie / Kontextklärung / Die Neutralität des Therapeuten (Familie Schneider)

      Wer als Psychotherapeut arbeitet, hat im allgemeinen ziemlich klare Vorstellungen davon, was unter „Therapie“ zu verstehen ist. Schließlich hat er Jahre seines Lebens damit zugebracht, therapeutische Theorien und Techniken zu erlernen. Für seine Patienten oder Klienten stellt sich die Situation ganz anders dar: Es beginnt damit, daß es eine Reihe von Berufen und Berufsbezeichnungen gibt, die alle ziemlich ähnlich klingen und für den Laien kaum zu unterscheiden sind (Psychotherapeut, Physiotherapeut, Psychologe, Psychopath, Psychiater, Psychotiker usw.), so daß bereits hier die Verwirrung beträchtlich sein kann. Aber selbst wenn klar ist, daß von Psychotherapie die Rede ist, weiß eigentlich keiner genau, was sich hinter dieser magischen Formel verbirgt. Zwischen dem, was Therapeuten unterschiedlicher Schulen über die Entstehung von Symptomen denken, was sie für therapeutisch nützlich oder schädlich halten, und dem, was sie im Umgang mit ihren Kunden tun, gibt es nur begrenzte Übereinstimmung.

      Eine der Konsequenzen solcher Unklarheiten ist, daß Patienten eigentlich nie wissen, was sie in der Therapie erwartet, und Therapeuten eigentlich nie wissen, was Patienten oder Familien in der Therapie erwarten. Die Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten beginnt nicht erst in dem Moment, in dem sie sich zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht begegnen, sondern sie hat eine Vorgeschichte, die sich in Hoffnungen, Befürchtungen und Vorurteilen der Klienten zeigen. Sie bilden den Ausgangspunkt einer jeden Psychotherapie.

      Bei der Paar- und Familientherapie zeigt sich im Vergleich zur Einzeltherapie eine Besonderheit: Wo der Therapeut es mit mehreren Personen zu tun hat, findet er sich eigentlich immer in einer Situation, in der seine Klienten der „Therapie“ ganz unterschiedliche Bedeutungen zuweisen; verbunden damit sind verschiedene, manchmal gar widersprüchliche Erwartungen an den Therapeuten und sein Handeln.

      Die Ausschnitte aus dem folgenden Erstgespräch sollen zeigen, wie wichtig die Klärung dieses Kontextes der Therapie für die Entwicklung der therapeutischen Beziehung ist.

      In die Therapie kommt ein Ehepaar, beide etwa gleich alt (Mitte 40); er arbeitet als Ingenieur in leitender Stellung in einem international tätigen Großunternehmen; sie hat bis zur Geburt der Kinder als Sozialpädagogin gearbeitet. Die beiden haben drei Kinder im Alter zwischen 12 und 5 Jahren. Identifizierte Patientin ist die Ehefrau, die schon mehrfach in stationärer psychiatrischer Behandlung war. Vor dem Gespräch haben beide einen Fragebogen ausgefüllt, aus dem die wenigen hier genannten Daten ersichtlich sind. Das Gespräch findet in einem Raum mit Einwegscheibe und Videokameras statt. Die Therapeuten in dieser Sitzung sind Fritz B. Simon und Gunthard Weber. Die Kommentare des Transkriptes sind durch Kursivdruck hervorgehoben.

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      Das Paar und die Therapeuten nehmen Platz. Die beiden schauen sich um.

      FRITZ SIMONJa, Sie schauen sich um. Ich möchte Ihnen zuerst einmal diesen Raum und unsere Arbeitsweise erklären. Ich weiß nicht, ob Sie unseren Brief bekommen haben? Normalerweise schicken wir einen Brief, in dem wir schreiben, wie wir arbeiten.

      Da unsere Arbeitsweise – Teamarbeit, Videoaufzeichnung, Beobachter hinter einer Einwegscheibe – von dem abweicht, was üblicherweise bei einem Arztbesuch zu erwarten ist, informieren wir unsere Patienten im voraus, um ein Gefühl der Überrumpelung zu vermeiden. Das heißt, eigentlich senden wir solch einen Brief … Da dies hier – warum auch immer – offenbar nicht geschehen ist, bedarf es längerer Erklärungen.

      HERR SCHNEIDER(hastig, ins Wort fallend) Nein, überhaupt nicht. Da gab’s also überhaupt einige Unklarheiten, und wir würden das auch erstmals als Vorgespräch auffassen.

      FRITZ SIMONDas wollte ich Ihnen auch gerade sagen, daß wir das wollen. Aber bevor wir überhaupt über irgend etwas reden, muß ich Ihnen den Raum erklären, damit Sie wissen, ob Sie überhaupt den Mund aufmachen wollen … Sie sehen, wir haben hier einige Apparate. Wir