Fritz B. Simon

Zirkuläres Fragen


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Gewicht in die Waagschale wirft. Es ist unserer Erfahrung nach nützlich, stets davon auszugehen, daß die Kollegen – auch wenn sie vielleicht ganz andere Ansichten als wir vertreten – ihre guten Gründe dafür haben. Diese Gründe lassen sich ebenfalls erfragen. Auf jeden Fall sollte vermieden werden, andere Therapeuten oder Methoden abzuwerten, da dies die Familienmitglieder in Loyalitätskonflikte bringen könnte. Außerdem erweist sich immer wieder, daß derjenige, der heute abwertet, morgen selbst abgewertet wird. Aus diesem Grund erscheint es auch nicht sinnvoll, die Patienten oder Familien vor die Alternative „Entweder der andere Therapeut oder ich/wir“ zu stellen. Statt dessen gilt es herauszufinden, welche unterschiedlichen, sich ergänzenden oder konkurrierenden Funktionen beiden zugedacht sind.

      FRAU SCHNEIDERNein, an sich hatten wir ja vor, ein Gespräch zu dritt zu führen. Aber das würde jetzt wohl auch von der Situation hier abhängen. Ich weiß nicht, ob sich das dann erübrigt oder …

      GUNTHARD WEBERAh ja. Weil das sich so anhörte, was Ihr Mann sagte, daß Sie ja auch eine Vertrauensbeziehung zu Ihrer Therapeutin haben … Also würden Sie eher davon ausgehen, daß die Gespräche mit Ihrer Therapeutin weitergehen, daß sie Ihnen weiter zur Verfügung steht, oder wie?

      FRAU SCHNEIDERNein, eigentlich nicht. Sie sagte eben nur, wenn es manisch-depressiv ist, dann könnte ich mich eventuell diesem Projekt hier anschließen. So in etwa hab ich das verstanden.

      Hier ist von der Überweiserin eine Markierung des Kontextes vorgenommen worden: Wenn es manisch-depressiv ist … Zumindest ist sie so von der Patientin verstanden worden. Das könnte für die Therapeuten ein Problem schaffen, da die Eheleute offenbar nicht einig sind, wie das Verhalten von Frau Schneider einzuordnen ist. Da Herr Schneider ganz eindeutig der Meinung ist, daß seine Frau manisch-depressiv ist, und die Therapeuten in einem Projekt arbeiten, das sich dieser Erkrankung widmet, besteht die Gefahr, daß die Therapeuten als parteilich für die Sichtweise des Mannes („Meine Frau ist krank“) erlebt werden. Dem stehen zwei Faktoren entgegen: Zum ersten ist die Überweisung durch die Psychotherapeutin von Frau Schneider erfolgt, und sie genießt das Vertrauen der Patientin; zum zweiten findet das Projekt in einem Institut für Familientherapie statt; dadurch ist ein Kontext markiert, der mehr der Sichtweise von Frau Schneider entspricht („Meine Verhaltensweisen sind das Resultat von Eheproblemen“). Das Zusammentreffen dieser gegensätzlichen Zuschreibungen macht es für die beiden unent-scheidbar, auf wessen Seite die Therapeuten stehen.

      FRITZ SIMONHm, hm. Das heißt also wenn …

      FRAU SCHNEIDER(unterbricht) Ich meine, als ich in der Depression war, sehr stark, ja gut, da war ich selber dann irgendwo überzeugt: Das wird wohl stimmen, dann werden wohl alle recht haben, und es ist manisch-depressiv.

      FRITZ SIMONAlso, wenn wir zu dem Schluß kämen, es wäre nicht manisch-depressiv, dann würden Sie wieder zu Ihrer Therapeutin zurückgehen? Heißt es das?

      FRAU SCHNEIDERNein, nicht unbedingt.

      FRITZ SIMONHm, ja. Was macht denn für Ihre Frau diesen Unterschied aus zwischen manisch-depressiv und nicht manisch-depressiv? Das ist ja offensichtlich eine Frage, die im Raume steht, die wichtig zu sein scheint. Was wäre, wenn das so etikettiert werden würde: Es ist manischdepressiv? Was ist der Unterschied zu: Es ist nicht manisch-depressiv?

      Nur wenn man nach Unterschieden fragt, gewinnt man Informationen. Gerade wenn Begriffe verwendet werden, die scheinbar klar in ihrer Bedeutung sind, besteht die Gefahr, daß man seine Patienten zu schnell zu verstehen glaubt. Was für einen biologischen Psychiater manisch-depressiv bedeutet, muß überhaupt nichts mit dem zu tun haben, was es für Frau Schneider oder ihren Mann bedeutet.

      Hier wird nun Herr Schneider über die Sichtweise seiner Frau befragt. Mit solch einem Fragetyp sind zwei Absichten verbunden: Auf der einen Seite soll das häusliche Muster der Kommunikation über dieses Thema gestört werden; Herr Schneider dürfte seine persönliche Sichtweise zu Hause schon tausendmal geäußert haben, und da sie von seiner Frau nicht geteilt wird, dürfte es wahrscheinlich über dieses Thema zu Auseinandersetzungen gekommen sein; die Wiederholung dieses Musters in der Therapiesitzung hätte keinen Neuigkeitswert, sie würde nichts verändern und obendrein die Therapeuten in die Rolle des Richters bringen. Beide Protagonisten würden um die Durchsetzung ihrer „Wahrheit“ kämpfen. Wird Herr Schneider hingegen über die Sichtweise seiner Frau befragt, wird seine Fähigkeit, sich in ihre Position einzufühlen, genutzt. Er mag zwar nicht mit seiner Frau übereinstimmen, aber er weiß aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich genau, was sie meint, wie sie es sieht, ja, meist sogar, wie es ihr geht. Wenn er die Perspektive wechselt und sagt, was seine Frau meint, kann sie überprüfen, wie sie von außen gesehen wird, und eventuell Korrekturen vornehmen. Allerdings werden solche Fragen nicht immer gleich beantwortet, da sie den gewohnten Mustern zuwiderlaufen. Dann bedarf es beharrlichen Nachfragens.

      HERR SCHNEIDERNa, der Unterschied ist: Wenn es manisch-depressiv ist, kann man es behandeln. Das haben uns die Ärzte versichert.

      FRITZ SIMONIst das jetzt Ihre Meinung oder die Ihrer Frau?

      HERR SCHNEIDERDas ist auch die Meinung der Ärzte in der Psychiatrie …

      FRITZ SIMONWas denken Sie, was für Ihre Frau den Unterschied macht?

      HERR SCHNEIDERJa, meine Frau hat vielleicht zu viele Bücher auch gelesen, und fällt dann (zu seiner Frau gewandt) – ich sag dir ja nichts Neues – von einem Extrem ins andere. Nachdem sie ein halbes Jahr überhaupt nie gehört hat oder wissen wollte, wie ich die Sache sehe, ist sie jetzt teilweise ins andere Extrem gefallen und sagt dann: „Ich bin halt verrückt oder irre.“ Was sonst kein Mensch verwendet. Weil sie der Meinung ist, das wäre eine Geisteskrankheit, statt zu sagen, das ist eine psychische Krankheit, die man behandeln kann.

      FRITZ SIMONAlso manisch-depressiv hieße für Ihre Frau, sie ist geisteskrank?

      HERR SCHNEIDERJa, sie sieht es jetzt halt so …

      FRAU SCHNEIDERJa, psychische Krankheit oder Geisteskrankheit ist im Grunde nur eine andere Übersetzung!

      HERR SCHNEIDERIst eine Krankheit und eine Krankheit, die man behandeln kann.

      FRITZ SIMONUnd im anderen Fall? Was hieße es im anderen Fall für Ihre Frau?

      herr schneiderJa, im anderen Fall hieße es, daß ich an all den Sachen offenbar Schuld war (zuckt die Achseln, schaut seine Frau an).

      frau schneiderNein … also für mich hieße das im anderen Fall, daß du versucht hast … oder daß du meine Versuche – die durchaus aggressiv waren –, in unserer Ehe etwas zu verändern, unter dem Gesichtspunkt manisch-depressiv abgeschoben hast. So würde ich das sehen!

      FRITZ SIMONUnd was wäre für Ihren Mann der Unterschied, aus Ihrer Sicht? Wenn Ihr Verhalten manisch-depressiv war, wenn wir das so etikettieren oder diagnostizieren müßten, könnten, sollten …?

      FRAU SCHNEIDERNa ja, daß ich dann behandelt werde und daß diese Phasen der Aggression nicht wiederkommen, und dann, ja, ein Eheleben wieder möglich ist.

      FRITZ SIMONUnd im anderen Falle, was hieße es im anderen Falle? Wenn es nichts Krankhaftes in diesem Sinne ist?

      FRAU SCHNEIDERJa, daß das dann eben unerträglich wäre für ihn.

      FRITZ SIMONUnd das hätte welche Konsequenz, langfristig?

      FRAU SCHNEIDERDaß man überlegen müßte, ob man überhaupt zusammenbleibt!

      FRITZ SIMONDenkt er eher, daß er derjenige wär, der sich trennt, oder daß Sie dann eher diejenige wären, die sich trennt?

      FRAU SCHNEIDEREr denkt dann, daß wir uns trennen und er die Kinder kriegt.

      FRITZ SIMONHm, hm. Und denkt er denn, daß Sie das so mitmachen würden …?

      FRAU SCHNEIDERIch meine, er hofft, daß alles wieder voll behebbar ist und wir wieder ein friedliches Leben führen.

      FRITZ SIMONAlso gibt er Ihrer Ehe bessere Chancen, wenn es manisch-depressiv ist.

      FRAU SCHNEIDERJa!

      FRITZ SIMON(an