»Heimkehr« literarisch und damit gebrochener. Im Zentrum dieser Gestaltung steht Muftis fiktionales Pendant, der sprechende Kater Dada. Für ordnungsgewohnte Literaturwissenschaftler und auflagenorientierte Verlagsredakteure mag seine märchenhafte Sprachbegabung eine Irritation sein, für die künstlerische und philosophische Konfiguration des Textes aber ist sie zentral. In der Verhandlung der Mensch-Tier-Beziehungen verschwimmen die Unterschiede und stehen unsere anthropologischen und ontologischen Gewissheiten zur Disposition. Als »phantastisches Tier« im Sinne Todorovs markiert Dada ähnlich wie sein literarischer Vetter Kater Murr den Grenzbereich.38 Das Gespräch mit dem Kater als Doppelgänger ist im Grunde ein Selbstgespräch zur Selbsterkennung, in dem das Tier in uns zur Sprache kommt und zur Sprache findet. Schon im allerersten Dialog zwischen Dada und Heinrich geht es um die transformative Reise als Selbstentdeckung und Offenbarung »in die Auferstehung und in eine neue Existenz!«39 Im Zentrum dieser Reise zu sich selbst steht auch hier die leib-seelische Doppelnatur des Menschen, und wieder ist es das Tier (in uns), das darauf hinweist: »›Du siehst aus wie ein beschnittener Schwanz‹, erklärte der Kater pathetisch, ›und bist ein Gott‹.«40 Als die Heimkehr fast vollzogen, die Reise fast vollendet ist und damit wieder an ihrem Anfang steht, wird Dada noch deutlicher und bringt es ganz im Sinne Nietzsches auf den Punkt: »›Du‹, meinte der Kater anerkennend, ›hast dich in deiner Nacktheit geschaut.‹ ›Als Schwanz. Als Gott.‹«41 Wenig später sinnt Heinrich Übel über seine Dialoge mit Dada nach, die die Menschen um ihn herum weder hören noch verstehen können.42 »Dabei war es im Prinzip eine einfache Sache. Wenn er als Dada oder Mieze angesprochen wurde, glaubte der Kater, ein Mensch namens Dada oder Mieze teile den eigenen Namen mit, und ich war ziemlich sicher, dass auch jenes Wesen, das wir Gott nannten, unsere Anrufungen für eine permanente Selbstdarstellung der Menschen hielt.«43 Mit anderen Worten: Die Namen, die wir Menschen den Tieren geben, sind unsere Namen, spiegeln unsere Vorstellungen und Wünsche, und das Gleiche gilt für die Dialoge, die wir mit ihnen führen. Es sind Imaginationen, Projektionen, anthropomorphe Fiktionen im Sinne von Ludwig Feuerbachs Projektionstheorie, auf die hier in der Parallele von Tier und Gott angespielt wird. Der Mensch, als Misch- und Mittelwesen zwischen Tier und Gott kann gar nicht anders, erreicht nur in diesem projektiven Verfahren, als narrativer Er-Finder, Einsicht über sich selbst. Das ist die ultimative Wahrheit, mit der die Katze als poetologisches und philosophisches Tier uns herausfordert.
1 Thomas Hürlimann: »Heimkehr. Roman«, Frankfurt/M. 2018, S. 161. — 2 Ebd., S. 36. — 3 Ebd., S. 273. — 4 Christina Gubler / Marco Guetg: »›Ich will mich nicht irgendwo anpassen, nur weil es modisch ist‹. Thomas Hürlimann über sein Image als konservativer Querdenker, die Bedeutung der Erotik und seinen neuen Roman ›Fräulein Stark‹. Sonntagsgespräch«, in: »Sonntagszeitung«, 29.7.2001, S. 20 f., hier S. 20. — 5 Thomas Hürlimann: »Nietzsches Regenschirm«, Frankfurt/M. 2015, S. 17. — 6 Ebd., S. 34. — 7 Roland Borgards: »Tiere und Literatur«, in: Ders. (Hg.): »Tiere. Ein interdisziplinäres Handbuch«, Stuttgart 2016, S. 225–244, hier S. 239. — 8 Hürlimann: »Heimkehr«, a.a.O, S. 522. — 9 Thomas Hürlimann: »Das Gartenhaus«, Frankfurt/M. 2000, S. 11, zuerst Zürich 1989. — 10 Ebd. — 11 Ebd., S. 54. — 12 Beatrice von Matt: »›Wir brauchen eine Vergangenheit, an die wir glauben können‹. Gespräche mit Thomas Hürlimann«, in: »Neue Zürcher Zeitung«, 26./27.10.1991, S. 67. — 13 Vgl. Max Weber: »Grundriss der Sozialökonomik, III. Abteilung. Wirtschaft und Gesellschaft«, Tübingen 1947, S. 140. — 14 Thomas Hürlimann: »Der grosse Kater«, Frankfurt/M. 2000, S. 16. Zuerst Zürich 1998. — 15 Ebd., S. 21 f. — 16 Siehe Gertrud Blaschitz: »Die Katze«, in: Dies. / Helmut Hundsbichler / Gerhard Jaritz / Elisabeth Vavra (Hg.): »Symbole des Alltags – Alltag der Symbole. Festschrift Harry Kühnel zum 65. Geburtstag«, Graz 1992, S. 589–616. — 17 Hürlimann: »Der grosse Kater«, a. a. O., S. 211. — 18 Ebd., S. 149. — 19 Ebd., S. 153 f. — 20 Hierzu ausführlicher: Jürgen Barkhoff: »Die Katzen und die Schweiz. Zum Verhältnis von Familiengeschichte und Landesgeschichte in Thomas Hürlimanns Familientrilogie«, in: Beatrice Sandberg (Hg.): »Familienbilder als Zeitbilder. Erzählte Zeitgeschichte(n) bei Schweizer Autoren vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart«, Berlin 2010, S. 181–195. — 21 Thomas Hürlimann: »Fräulein Stark. Novelle«, Zürich 2001, S. 17. — 22 Ebd., S. 175. — 23 Thomas Hürlimann: »Vierzig Rosen. Roman«, Zürich 2006, S. 61. — 24 Hürlimann: »Heimkehr«, a. a. O., S. 33. — 25 Ebd. — 26 Ebd., S. 192. u. ö. — 27 Thomas Hürlimann: »Die Katze«, in: Ders.: »Die Satellitenstadt. Geschichten«, Frankfurt/M. 2002, S. 61–63, hier S. 63. Zuerst Zürich 1992. Siehe auch im gleichen Band die Erzählung »Die Satellitenstadt«, S. 71–119, bes. »Der komische Vogel«, S. 116–119. — 28 Thomas Hürlimann: »Der Kosmopolit wohnt im Kosmos«, in: Ders.: »Das Holztheater. Geschichten und Gedanken am Rand«, Zürich 1997, S. 9–25, hier S. 9. Nach Fertigstellung dieses Beitrags erschien der Essayband Thomas Hürlimann: »Abendspaziergang mit dem Kater«, Frankfurt/M. 2020, der diese Thematik in Zwischentexten aufgreift. — 29 Hürlimann: »Nietzsches Regenschirm«, a. a. O., S. 30 f. Ähnlich in Hürlimann: »Der Kosmopolit wohnt im Kosmos«, a. a. O., S. 9 f. — 30 Christine Richard: »›Toleranzpropaganda ist alles andere als tolerant‹. Im Gespräch mit dem Schweizer Autor Thomas Hürlimann, der das Literaturfestival Basel eröffnet«, in: »Tagesanzeiger«, 6.11.2014. — 31 Hürlimann: »Nietzsches Regenschirm«, a. a. O., S. 17. — 32 Ebd., S. 15. — 33 Ebd., S. 22. — 34 Ebd., S. 17. —