Heinrich Mann

Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen


Скачать книгу

das Vorgefallene.

      „Dies war ein Fehler. Dies war — freilich nun wohl — ein Fehler.“

      Die Künstlerin Fröhlich musste auf einem andern Wege ausfindig gemacht werden. Unrat sah sich die Begegnenden daraufhin an, ob sie etwas von ihr wüssten. Es waren Lastträger, Dienstmädchen, der Laternenanzünder, eine Zeitungsfrau. Mit dem Volk war keine Verständigung möglich: er hatte die Erfahrung gemacht. Auch lud ihn sein jüngstes Erlebnis dazu ein, bei der Anknüpfung mit Unbekannten vorsichtig zu sein. Weiser war es, nach einem schon vertrauten Gesicht sich umzusehen. Aus der nächsten „Grube“ tauchte eben eines auf, dem Unrat noch voriges Jahr mit wütender Betonung lateinische Verse zugeschrien hatte. Der Schüler, der „seins“ nie „präpariert“ hatte, schien jetzt Handlungslehrling zu sein. Er näherte sich mit einem Packen Briefe in der Hand und sah geckenhaft aus. Unrat ging auf ihn zu, machte schon den Mund auf, wartete nur noch auf den Gruss des jungen Menschen. Der aber erfolgte nicht. Der ehemalige Schüler sah dem Professor höhnisch in die Augen und ging dicht an Unrats zu hoher Schulter vorbei, wobei auf seinem blonden Gesicht das Grinsen erschrecklich breit ward.

      Unrat verschwand rasch in die „Grube“, woher der andere gekommen war. Es war eine der nach dem Hafen sich senkenden Strassen; und da sie abschüssiger ging als die andern, hatten sich hier zahllose Kinder zusammengefunden, um in kleinen Wagen mit vollen Rädern, lärmenden „Bullerwagen“, den Berg hinabzufahren. Die Mütter und Mägde standen auf dem Bürgersteig, erhoben die Arme und riefen zum Abendessen; aber die junge Welt stürzte unablässig, kniend in ihren Wagen oder die Beine in der Luft, mit wehenden Halstüchern, über die Ohren geklappten Mützen und zum Jubeln offnen Mündern, holpernd das Klinkerpflaster hinunter. Unrat musste, wie er die Strasse überschritt, Sprünge machen, sonst geriet er in die Deichsel. Um ihn her spritzten Pfützen auf. Aus einem vorüberrasenden Wagen rief plötzlich eine durchdringende Stimme:

      „Unrat!“

      Unrat zuckte zusammen. Sofort wiederholten einige andere das Wort. Diese Bürger- und Volksschüler hatten seinen Namen wohl von den Gymnasiasten erfahren; und andere, die gar nicht wussten, was gemeint war, schrien mit. Durch den Sturm hindurch, der sich gegen ihn erhoben hatte, musste Unrat die steile Strasse erklimmen. Keuchend erreichte er einen Kirchplatz.

      Das war ihm wohl alles geläufig; die ehemaligen Schüler, die ihn nicht grüssten, sondern angrinsten, die Strassenjugend, die ihm seinen Namen nachrief. Nur hatte er heute in seinem Eifer nicht damit gerechnet: denn jetzt schuldeten die Leute ihm eine Antwort. Wenn sie früher ihre Vergilverse nie gekonnt hatten, mussten sie nun wenigstens über die Künstlerin Fröhlich Bescheid wissen!

      Unrat kam auf den Markt und an einem Tabakshändler vorbei, einem Schüler von vor zwanzig Jahren, von dem er zuweilen ein Kistchen bezogen hatte; — nur zuweilen: er rauchte nicht stark, er trank selten; er hatte keines der bürgerlichen Laster . . . Die Rechnungen dieses Mannes waren regelmässig überschrieben: Herrn Professor U —, und dann erst war aus dem U ein R gemacht. Ob das böse Absicht oder Gedankenlosigkeit war, hatte Unrat nie feststellen können; aber er verlor auf einmal den Mut, den Laden zu betreten, dessen Schwelle er schon berührt hatte. Der Mann da drinnen war ein widersetzlicher Schüler, der nicht zu „sassen“ war.

      Er schlich eilig weiter. Es regnete nicht mehr; der Wind trieb die Wolken fort. Die Gaslaternen flackerten rot. Schief über einen Giebel lugte manchmal der gelbe, halbe Mond: ein höhnisches Auge, das gleich wieder das Lid einkniff, so dass ihm sein Hohn nicht zu ,,beweisen“ war.

      Wie er in den „Kohlbuden“ trat, flammten die grossen Fenster des Café Central lichlerloh auf. Unrat spürte Lust, hineinzugehen, ein ungewohntes Getränk zu sich zu nehmen. Er war heute auf merkwürdige Weise aus den Schienen seines Tages herausgeworfen. Da drinnen liess sich gewiss etwas über die Künstlerin Fröhlich erfahren; dort ward von allem möglichen gesprochen. Unrat wusste dies von früher, denn zu Lebzeiten seiner Frau hatte er sich manchmal — sehr selten — eine Ferienstunde im Café Central gegönnt. Seit sie tot war, hatte er zu Hause so viel Ruhe wie er wollte, und brauchte das Café nicht mehr. Überdies war ihm der Aufenthalt dort zum Schluss erschwert worden durch den neuen Besitzer, auch einen frühern, nach Jahren in die Stadt zurückgekehrten Schüler. Dieser hatte seinen einstigen Lehrer eigenhändig bedient und ihn mit äusserster Höflichkeit, so dass Unrat es ihm unmöglich „beweisen“ konnte, fortwährend als Professor Unrat angeredet. Die Gäste waren sehr angeregt gewesen; Unrat hatte die Empfindung gehabt, wenn er häufiger herkäme, würde er dem Lokal zur Reklame dienen.

      Also wandte er sich fort und suchte im Geist nach andern Stätten, wo er seine Frage vorbringen konnte. Aber es fielen ihm keine ein. Die bekannten Köpfe, die sein Gedächtnis aufrief, trugen alle solche Mienen wie vorhin der Handlungslehrling, sein Schüler. Die erleuchteten Geschäfte bargen, wie das des Zigarrenhändlers und das des Cafétiers, lauter aufrührerische Schüler. Unrat geriet in Zorn, er fing an müde zu werden, und er hatte Durst. Er warf nach den Läden, nach den Haustüren mit Namen ehemaliger Sekundaner aus den Rändern seiner Brillengläser die grünen Blicke, die seine Klasse giftig nannte. Alle diese Burschen forderten ihn heraus. Auch die Künstlerin Fröhlich, die sich in einem dieser Häuser versteckt hielt, einen seiner Schüler mit Nebendingen beschäftigte und sich Unrats Machtbefugnis entzog, sie forderte ihn heraus! Zuweilen zeigte das Schild an einem Eingang den Oberlehrer Soundso an; dann lenkte Unrat gereizt die Augen weg. Der da hatte vor seiner eigenen Klasse seinen Namen genannt; und dass er sich darauf verbessert hatte, machte nichts gut. Dieser hier hatte Unrats Sohn auf dem Markt mit einem Frauenzimmer gesehen und das Gesehene herumgeredet. Auf allen Seiten bedroht von Feinden, durchmass Unrat die Strassen. Er schlich an den Häusern hin, mit einem gespannten Gefühl oben auf dem Scheitel; denn jeden Augenblick konnte wie ein Kübel schmutziges Wasser, den jemand ihm über den Kopf gegossen hätte, aus einem Fenster sein Name fallen! Und da er ihn nicht sah, vermochte er den Schreier nicht zu „fassen“! Eine empörte Klasse von fünfzigtausend Schülern tobte um Unrat her.

      So rettete er sich, ehe er’s selber wusste, in die abgelegenste, tiefste Gegend, wo am Ende einer langen, stillen Gasse das Stift der alten Fräulein stand. Es war hier ganz dunkel. Ein paar huschende Wesen in halblangen „Mantillen“ und mit Tüchern um den Kopf kehrten verspätet heim aus einem Kränzchen, von einem Abendgottesdienst, klingelten verstohlen, zergingen in einer Türspalte. Eine Fledermaus beschrieb Zacken über Unrats Hut. Unrat dachte und schielte nach der Stadt hinauf:

      „Dann ist da kein, kein Mensch.“

      Er sagte wohl:

      „Ich leg’ euch Bande noch mal hinein!“

      Aber da er seine Ohnmacht fühlte, kam der Hass in ihm ins Zittern und riss ordentlich an ihm; der Hass auf diese Tausende fauler, boshafter Schüler, die ihm immer die schuldige Arbeit vorenthalten, ihn immer bei seinem Namen genannt, immer nur auf Unfug gesonnen hatten; die ihn jetzt mit der Künstlerin Fröhlich ärgerten, sie und den Schüler Lohmann nicht angaben, sondern sich benahmen wie eine „gemeine“ Klasse, die zusammenhält gegen den Lehrer; die jetzt alle beim Abendessen sassen, ihn aber nötigten, hier unten herumzuschleichen; und die überhaupt, es ahnte ihm in dieser Stunde, etwas Übles aus ihm gemacht, ihn in den langen Jahren, die er bei ihnen war, fragwürdig zugerichtet hatten.

      Er, der seit sechsundzwanzig Jahren die Klasse vor sich hatte, die Klasse mit immer denselben tückischen Gesichtern, hatte nie bemerkt, dass die Gesichter hier draussen und wenn die Zeit hinging, bald ganz gleichgültige Mienen behielten beim Gedanken an Professor Unrat, und dass sie später sogar wohlwollende annahmen. Immer in der Anspannung des Kampfes war er nicht dazu angetan, es zu würdigen, dass die Älteren in der Stadt seinen Namen, sogar wenn sie ihm das Wort laut an den Kopf sagten, nicht aussprachen um ihn zu verletzen, sondern Jugenderinnerungen zuliebe, die ihnen mittlerweile harmlos heiter aussahen; und dass er in der Stadt eine Figur war die für jeden Komik umhertrug, aber für manchen eine zärtliche Komik. Er hörte nicht den Meinungsaustausch zweier Schüler aus der allerersten Generation, die an einer Strassenecke stehen blieben und ihm, er meinte voll Hohn, nachblickten:

      „Was ist denn mit dem Unrat? Er wird alt.“

      „Und immer schmutziger.“

      „Anders als schmutzig hab’ ich