Meister.“
Unrat wusste nicht, wie er den Mann noch anfeuern solle.
,,Denken Sie nur: barfuss!“
„Barfuss,“ wiederholte der Schuster. „O o oh! Also tanzeten auch die Weiber der Amalekiter, die vor dem Götzen tanzeten.“
Und er stiess ein leeres Gelächter aus, nur aus Demut, weil er, der ungelehrte Mann, sich mit Worten der Schrift zu schmücken wagte.
Unrat rückte gepeinigt hin und her, wie bei der Ubersetzung eines Schülers, der stockte und gleich festzusitzen drohte. Er hieb mit den Knöcheln auf die Stuhllehne und sprang auf.
„So lassen Sie’s nun gut sein mit dem Massnehmen, Meister, und sagen Sie mir — vorwärts denn also! — ob die Barfusstänzerin Fröhlich schon eingetroffen ist! Das sollten Sie wohl wissen!“
„Ich, Herr Professer?“ Und Rindfleisch stand bestürzt, „ich — eine Tänzerin?“
„Dadurch werden Sie auch nicht schlechter,“ behauptete Unrat ungeduldig.
„O o oh, ferne von mir sei der geistige Hochmut und die Selbstgerechtigkeit. Und Liebe im Herrn, Herr Professer, will ich denn auch haben für meine barfüssige Schwester, o jah, und will bitten, dass der Herr an ihr tuhe, was er an der Sünderin Magdalena getan hat.“
„Sünderin?“ fragte Unrat überlegen. „Warum halten Sie denn die Künstlerin Fröhlich für eine Sünderin?“
Der Schuhmacher blickte keusch auf den geölten Fussboden.
„Ei ja,“ versetzte Unrat, immer unzufriedener mit dem Meister, „wenn Ihre Frau oder Ihre Tochter einen Lebenswandel beginnen wollten wie eine Künstlerin, das stände ihnen — freilich denn wohl — nicht an. Hingegen gibt es Lebenskreise und Sittengesetze: — doch mag’s denn genug sein.“
Und er machte eine Handbewegung, die sagte, dass hier ein Gegenstand in Tertia berührt ward, der höchstens nach Prima gehörte.
„Auch mein Weib ist eine Sünderin,“ sagte der Schuster leise, schob die Finger über dem Magen durcheinander und sah auf, mit einem Bekennerblick.
„Und ich selbsten muss sprechen: Herr Herre. Denn Fleischessünder sind wir allzumal.“
Nun erstaunte Unrat.
„Sie und Ihre Frau? Sie sind doch rechtmässig verheiratet?“
„O o oh jah, das sind wir woll. Aber Fleischessünde, Herr Professer, bleibt es immerdar, und Gott erlaubt es auch nuhr —“
Der Herrnhuter richtete sich auf zu etwas Wichtigem. Seine Augen wurden rund und ganz bleich von Geheimnis.
„Nun?“ fragte Unrat nachsichtig.
Und jener, flüsternd:
„Das wissen die andern Menschen man nich, dass Gott es nuhr darum erlaubt, auf dass er in seinen Himmel oben mehr Engel kriegt.“
„So so,“ machte Unrat, „das ist ja denn freilich recht hübsch.“
Und er lugte mit einem hinterhältigen Lächeln zu dem verklärten Gesicht des Schuhmachers hinauf.
Aber er unterdrückte bald seinen Spott und wandte sich zum Gehen. Er fing an zu glauben, Rindfleisch wisse wirklich nichts über die Künstlerin Fröhlich. Der Schuhmacher besann sich auf diese Welt und fragte, wie hoch denn die Schäfte sein sollten. Unrat antwortete nachlässig, behandelte auch den Abschied von der Familie Rindfleisch nur mit flüchtiger Leutseligkeit. Dann trat er rasch den Heimweg an.
Er verachtete Rindfleisch. Er verachtete die blaue Stube, die Enge dieser Geister, die demütigen Seelen, die pietistischen Überspanntheiten und die sittliche Verstocktheit. Auch bei Unrat zu Hause sah es eher dürftig aus; dafür aber hatte er in seinem Kopf die Möglichkeit, sich mit mehreren alten Geistesfürsten, wenn sie zurückgekehrt wären, in ihrer Sprache über die Grammatik in ihren Werken zu unterhalten. Er war arm, unerkannt; man wusste nicht, welche wichtige Arbeit er seit zwanzig Jahren förderte. Er ging unansehnlich, sogar verlacht unter diesem Volk umher; — aber er gehörte, seinem Bewusstsein nach, zu den Herrschenden. Kein Bankier und kein Monarch war an der Macht stärker beteiligt, an der Erhaltung des Bestehenden mehr interessiert als Unrat. Er ereiferte sich für alle Autoritäten, wütete in der Heimlichkeit seines Studierzimmers gegen die Arbeiter — die, wenn sie ihre Ziele erreicht hätten, wahrscheinlich bewirkt haben würden, dass auch Unrat etwas reichlicher entlohnt wäre. Junge Hilfslehrer, noch schüchterner als er, bei denen er sich mit der Sprache herauswagte, warnte er düster vor der unseligen Sucht des modernen Geistes, an den Grundlagen zu rütteln. Er wollte sie stark: eine einflussreiche Kirche, einen handfesten Säbel, strikten Gehorsam und starre Sitten. Dabei war er durchaus ungläubig und vor sich selbst des weitesten Freisinns fähig. Aber als Tyrann wusste er, wie man sich Sklaven erhält; wie der Pöbel, der Feind, die fünfzigtausend aufsässigen Schüler, die ihn bedrängten, zu bändigen waren. Lohmann schien in Beziehungen zu stehn zur Künstlerin Fröhlich; Unrat errötete darüber, weil er nicht anders konnte. Aber zum Verbrecher ward der Schüler Lohmann erst dadurch, dass er sich bei verbotenen Freuden der harten Zucht des Lehrers entzog. Nicht sittliche Einfalt zwang Unrat zum Zorn . . .
Er gelangte in seine Wohnung und schlich auf den Zehen an der Küche vorbei, wo die Wirtschafterin, über seine Verspätung, ungehalten, mit den Töpfen rasselte. Dann bekam er zu essen, Mettwurst und Kartoffeln. Sie waren zerkocht und dennoch kalt. Unrat hütete sich, ein Wort dagegen zu sagen; dieses Mädchen hätte sofort die Hände auf die Hüften gestemmt. Unrat wollte sie davor bewahren, sich gegen ihren Herrn aufzulehnen.
Nach der Mahlzeit stellte er sich vor sein Schreibpult. Es war, Unrats kurzsichtigen Augen zuliebe, übermässig hoch; und die dreissigjährige Anstrengung, den rechten Arm daraufzulegen, hatte ihm die Schulter weit aus der graden Linie gehoben. „Das Wahre ist nur die Freundschaft und die Literatur,“ sagte er dabei wie gewöhnlich. Dies Wort hatte er irgendwo aufgefangen und sich angewöhnt, und sah sich nun genötigt, es vor sich hin zu denken, so oft er an die Arbeit ging. Was er unter Freundschaft zu verstehn habe, erfuhr er nie. Das Wort ging nur zufällig mit. Aber die Literatur! Das war ja sein wichtiges Werk, wovon die Menschen nichts wussten, das hier in der Stille seit langer Zeit gedieh und das vielleicht einmal, Staunen erregend, aus Unrats Gruft hervorblühen sollte. Es handelte von den Partikeln bei Homer! . . . Aber Lohmanns Aufsatzheft lag daneben und liess ihn nicht in Stimmung kommen. Er musste danach greifen und an die Künstlerin Fröhlich denken. Es gab etwas, das ihn sehr beunruhigte: er war nicht mehr sicher, dass die berühmte Barfusstänzerin sich Rosa Fröhlich nenne. Diese Fröhlich konnte ganz etwas anderes sein. Ja, sie war ganz etwas anderes: es ward Unrat durch Grübeln zur Gewissheit. Er hatte sie immer noch ausfindig zu machen, um sie dem Schüler Lohmann ,,beweisen“ zu können. Er sah sich, im Kampfe mit diesem Elenden, wieder weit zurückgeworfen und keuchte vor einsamer Erregung.
Plötzlich stürzte er sich in seinen Mantel und stürmte hinaus. Vor dem Haustor lag schon die Kette; Unrat zerrte daran, wie ein Ausbrecher. Die Wirtschafterin schalt, er hörte sie herbeistampfen. In der Angst der äussersten Minute tat er einen richtigen Griff, die Tür ging auf, er war im Vorgärtchen und auf der Strasse. Bis zum Stadttor wechselte er zwischen Trab und Eilschritt; dann mässigte er sich, aber sein Herz klopfte. Er fühlte sich seltsam, wie auf verbotenen Wegen. Er ging den verödeten Strassenzug, über Berg und Tal, immer gradaus. Er lugte in die Gässchen und ,,Gruben“, verweilte vor den Gasthäusern und sah mit gespanntem Misstrauen zu Fenstern hinauf, zwischen deren geschlossenen Vorhängen ein Lichtstrahl zu liegen schien. Er wanderte auf der dunkeln Seite; drüben verbreitete sich heller Mond. Es war sternenklar, es wehte nicht mehr, und Unrats Schritte hallten. Beim Rathaus lenkte er auf den Markt und machte die Runde unter den Lauben. Bogen, Türme, Brunnen stachen ihre von Arabesken umrankten Schattenrisse in die gotische Mondnacht. Eine rätselhafte Aufregung geschah in Unrat; er sagte zu verschiedenen Malen:
„Da würde denn wohl . . . traun . . .“ und „Vorwärts denn also!“
Dabei prüfte er eifrig jedes einzelne Fenster der Post und des Polizeiamtes. Da er es unwahrscheinlich fand, dass sich die Künstlerin Fröhlich