Indikator dafür, dass er die Versammlung für einen Haufen unintelligenter Individuen hielt, die ein Nein nicht als ein Nein verstanden.
„Ist es eine interne Auseinandersetzung? Banden?“, fragte Anne, da sie wusste, dass diese Frage den Vizepolizeidirektor zum Antworten bringen würde. Jedenfalls, wenn das nicht der Fall war.
Anker Dahl drehte sich zu ihr um, die eine Augenbraue schoss anklagend hoch zur Stirn. „Hier ist nicht die Rede von Bandenkonflikten. Das kann ich mit Sicherheit sagen!“
Stillschweigend vorausgesetzt, dass die Polizei von Ostjütland das Bandenmilieu in Aarhus im Griff hatte, dachte Anne und hatte Lust, bei dem Thema viel mehr nachzubohren.
„Sie tappen also völlig im Dunkeln?“ Eine Feststellung, von der sie wusste, dass er ebenfalls darauf reagieren musste, um nicht als inkompetent dazustehen.
„Wir arbeiten vorläufig mit der Theorie eines Mordes im Affekt.“
„Was macht das glaubhaft?“, meldete sich eine bekannte Stimme zu Wort, bevor Anne nachhaken konnte. Sie schaute sich um und versuchte den Mann auszumachen.
„Wie ich gerade sagte, habe ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine weiteren Informationen.“
Das war der letzte Kommentar. Anker Dahl setzte sich in sein Auto, knallte die Tür zu und fuhr. Die Journalistenschar löste sich auf; jetzt galt es, schnellstmöglich in die Redaktionen zurückzukehren und die Neuigkeit als Erster zu bringen. Dann entdeckte Anne ihn. Nicolaj. Natürlich war es Nicolaj. Sie hatte nicht mehr mit ihm gesprochen, seit sie bei Media House Denmark aufgehört hatte, wo er immer noch Reporter war. Dem Anzug und dem Auto nach zu urteilen, zu dem er lief, schien es ihm gut zu gehen. Sie eilte zu Ninna, die das Gebäude filmte, in dem der Mord stattgefunden hatte. Die Kriminaltechniker wühlten in den Büschen davor und ein Beamter bat sie zu verschwinden. Ninna packte die Kamera ein, behielt aber gleichzeitig etwas hinter Annes Rücken im Auge.
„Ein rothaariger Mann ist auf dem Weg hierhin. Er ruft nach dir, Anne“, teilte sie mit.
Sie hatte es gehört. „Tu so, als ob du ihn nicht siehst, ich helfe dir gleich damit, das Auto zu beladen.“
„Aber wer ist das? Ach nee, ist das nicht Nicolaj? Nicolaj Bang?“, flüsterte Ninna aufgeregt.
„Und wenn? Kennst du ihn?“
„Wer nicht?! Er war ja kurz davor, den Cavling-Preis zu gewinnen. Das war irgendwas mit einer großen Sache in Italien.“
„Ja, und willst du wissen, warum er nicht gewonnen hat?“, fauchte Anne ein bisschen gereizt, schwieg aber, als Ninna ihr den Ellbogen fest in die Seite stieß.
„Hi, Anne. Ich dachte mir doch, dass du das bist.“
Anne drehte sich um, den Rücken an der Autotür, die sie gerade zugeworfen hatte. „Hi, Nicolaj!“ Es war immer unmöglich, überrascht zu klingen, wenn man es nicht war.
„Ja, ich hab ja schon gehört, dass du jetzt für TV2 Ostjütland arbeitest“, lächelte er und begrüßte Ninna, die rote Wangen bekam und seine ausgestreckte Hand drückte, als wäre es die Justin Biebers.
„Eine unheimliche Sache“, sagte er und nickte in Richtung Gebäude. „Der Vizepolizeidirektor hat sehr schnell zurückgewiesen, dass es sich um einen Bandenkonflikt handelt. In diesem Milieu kann man schnell auf den Gedanken kommen“, fuhr er fort und schaute zu einer Gruppe Jugendlicher hinüber, die sich auf dem Parkplatz versammelt hatten, die Motoren ihrer Mopeds im Leerlauf. Schwarze Jungs, alle mit markanten Undercut-Frisuren.
„Nur weil man in Aarhus West wohnt, schwarz ist, Hoodies und Lederjacken trägt und Moped fährt, muss man ja nicht gleich Mitglied einer kriminellen Bande sein“, wehrte Anne ab und gab der verwirrten Ninna ein Zeichen, dass sie losmussten.
Sie öffnete die Autotür.
„Warte, Anne! Es ist lange her. Können wir uns nicht treffen? Wir sprechen oft über dich bei Media House Denmark.“
„Sicher nichts Gutes! Wir haben’s eilig, Nicolaj.“
„Warum bist du so abweisend? Wir könnten wieder zusammenarbeiten.“
Anne knallte die Autotür zu und ging zu ihm hinüber, sah ihm direkt in die grünen Augen, die sofort anfingen zu flackern.
„Ja, du hättest gerne eine neue Chance, einen Preis zu gewinnen, stimmt’s? Aber dieses Mal ohne meine Hilfe!“
„Das war ich nicht, Anne. Joakim Boysen … der Chefredakteur hat mich eingestellt und ich …“
„Du warst ganz scharf darauf, den zu bekommen, aber weißt du was, Nicolaj? Ich habe mich gefreut, als er an jemand anderen ging, der ihn mehr verdient hat. Komm, Ninna! Ich fahre!“
Die Fotografin wusste glücklicherweise, wann es sich nicht auszahlte zu diskutieren, und warf ihr den Autoschlüssel zu. Anne fing ihn und schaute zurück. Hier gab es nichts mehr zu holen. Die Leiche war in die Rechtsmedizin transportiert worden und die Kriminaltechniker sagten keinen Ton. Es freute sie zu sehen, dass Nicolaj zu seinem schicken Auto zurückschlich und sich hineinsetzte. Aber er würde ihr immer einen Schritt voraus sein. Er wohnte mit Natalie Davidsen zusammen. Soweit sie gehört hatte, hatten sie letztes Jahr geheiratet. Sie hatten eine kleine Tochter zusammen und sie wusste, dass die Rechtsmedizinerin mit Informationen sehr großzügig war, obwohl ihr Mann für die Presse arbeitete. Sogar für die Sensationspresse. Wenn sich Anne eines Tages wirklich rächen wollte, dann würde sie da ansetzen. Dass sie es nicht bereits getan hatte, war allein der Tatsache geschuldet, dass es am besten war, mit Natalie Davidsen auf gutem Fuß zu stehen, da sie diejenige war, die den größten Ärger bekäme, wenn es jemand erfahren würde.
„Unfassbar, dass du Nicolaj Bang gegenüber so abweisend sein kannst“, murmelte Ninna, während sie sich anschnallte.
„Ich verstehe nicht, was du in ihm siehst. So ein Grünschnabel. Er war mal mein kleiner, rotziger Praktikant.“
„Aber er ist total kompetent. Ich habe gehört, was du zu ihm gesagt hast über den Cavling-Preis. Also, ich bin da anderer Meinung. Das war viel Arbeit, die er reingesteckt hat, um diesen Artikel zu schreiben.“
„Der eine Menge wichtiger Dinge verschwiegen hat, Ninna. Ich habe damals selbst für Media House Denmark gearbeitet und in diesem Fall ist nicht die ganze Wahrheit ans Licht gekommen. Deswegen hat er wohl auch nicht gewonnen.
Sie bremste scharf, als ein Fahrradfahrer plötzlich der Meinung war, die Straße überqueren zu wollen, ohne ein Zeichen zu geben. Das war knapp. Anne zeigte ihm den Mittelfinger und kriegte ihn auch gezeigt.
Sie fuhren lange schweigend. Die Ereignisse in Italien vergangenen Herbst flammten wieder auf mit gemischten Gefühlen. So viele, dass sie sie nicht sortieren konnte und sich an das Gute hielt: Die Freundschaft mit Giacomo Pasquale, dem italienischen Kollegen von Il Manifesto, den sie in Milano getroffen hatte. Es war lange her, seit sie miteinander gesprochen hatten. Vielleicht sollte sie dieses Mal anrufen. Bisher hatte immer er den Kontakt gesucht und es war nicht, weil sie keine Lust hatte.
„Haben wir genug für die Sendung heute Abend?“, unterbrach Ninna ihre Erinnerungen.
„Wir haben ja nichts anderes.“
Beinahe bereute sie, Nicolajs Angebot einer Zusammenarbeit nicht angenommen zu haben. Natalie kannte alle Details und die würde Nicolaj bald auch kennen. Ihr kam eine Idee.
„Hast du dein Smartphone dabei, Ninna?“
Ninna nickte. „Klar.“
„Dann versuch mal gerade, auf www.mediahousedenmark.dk zu gehen und klick auf den Link, auf dem Lokales und Breaking News steht.“
Ninna holte ihr Telefon aus der Tasche, entsperrte es mit zwei schnellen Fingerbewegungen über den Bildschirm und tippte. Während sie las, achteten Annes Augen besonders aufmerksam auf die Straße. Auch wenn wenig Autos unterwegs waren, war es nötig, sich zu konzentrieren.