Poul Erik?“, fragte er und setzte sich neben ihn.
„Ja, das kann man wohl sagen. Ausgezeichneter Wein. Aber was hast du da?“
„Das ist ein Moscato. Fürs Dessert. Möchtest du probieren?“
Poul Erik nickte begeistert. „Lissi fährt, daher schenk ruhig ordentlich ein“, flüsterte er. „Das Italienische hat es dir wohl angetan, was?“, fuhr er fort, während Kurt randvoll einschenkte.
„Ja, mein Kriminalkommissar … äh, ein ehemaliger Kollege ist Italiener und hat mir einigen guten Wein besorgt.
Kurt Olsen räusperte sich, da er auf einmal einen Frosch im Hals hatte.
„Vermisst du den Job?“, fragte Poul Erik, der die Sehnsucht in seinem Gesicht gesehen haben musste.
„Tja, ab und zu. Dreiundvierzig Jahre am selben Arbeitsplatz geben einem ja ein gewisses … Zugehörigkeitsgefühl.“
Er drehte das Glas und schaute auf den Rebensaft, der darin schwenkte.
„Ja, das ist klar. Deswegen mache ich auch weiter. Nur zu Hause zu sein, liegt mir nicht.“
„Verbrennung läuft ja wohl ganz gut. Wie ich hörte, habt ihr einen großen Auftrag bekommen.“
„Ja, ich kann mir vorstellen, dass Lissi es sicher Eve erzählt hat“, gluckste Poul Erik vergnügt. „Wusstest du, dass wir in Dänemark Abfallexperten sind? Wir sind faktisch Europameister. Die neue Anlage hat eine viel größere Kapazität als die alte, aber ich kann noch nicht so sehr ins Detail gehen. Der Vertrag ist noch nicht in trockenen Tüchern, doch wir sprechen hier wohl über einen größeren Milliardengewinn.“
Kurt Olsen nickte und hörte mit halbem Ohr dem anderen Tischgespräch zu, das sich immer noch um Spenderkinder und Ethik drehte. Lissi und Emil waren an ihre Plätze zurückgekehrt, und als Eve mit dem Nachtisch kam, waren ihre Gedanken schon wieder ganz woanders.
4
Äthiopien
Die Räder des roten Samsonite-Trolleys schrammten über den marmorähnlichen Boden, als sie ihn mit einer kalten und schwitzigen Hand hinter sich her zog. Die Schweißproduktion war erhöht worden während des Transports in einem voll besetzten Flughafenbus und ließ die Bluse an der Haut kleben. Sie konnte nicht beurteilen, ob der Boden aus echtem Marmor war, aber es würde sie nicht wundern. Die Eindrücke überraschten erneut. Sie hatte erwartet, in einer Wüste zu landen. Jedenfalls in einer trockenen, flachen Umgebung, stattdessen war es grün mit hohen, üppigen Bergen. Hier hatte sie sich Dreck und Armut vorgestellt und dann war es moderne Architektur, auf die sie in der klimatisierten Ankunftshalle traf. Sie war bis hoch zur Decke mit einer kunstvollen weiß gestrichenen Rohrkonstruktion ausgestaltet. Die Sonne schien zwischen den Rohren durch die Oberlichtfenster und zeichnete abstrakte Sonnenstrahlen auf den blanken Boden. Sicher die Absicht des Architekten mit dem Design. Es gab Unmengen von Duty Free Shops mit einer Auswahl, die sie noch nirgendwo sonst gesehen hatte. Exotische Düfte aus Cafés und Restaurants wogten von allen Seiten. Ein Geschäft hatte mehrere Schaufenster mit afrikanischen Gebrauchsgegenständen: Webteppiche, handgeschnitzte Holzschalen, Figuren, Masken und Trommeln. Es war unmöglich, das Ganze zu sehen, ohne anzuhalten, doch dafür hatte sie leider keine Zeit.
Silje stellte den Trolley ab, wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn und nahm sich einen Augenblick, um den Weg zum Gate zu finden. Der Text auf den gelben Schildern an der Decke war auf Englisch und Amharisch. Ein Baby weinte herzzerreißend, laut und kontinuierlich. Das Geräusch hallte in dem großen Gebäude. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es dauerte nicht lange, bis sie das nächste Flugzeug erwischen sollte, und wie ging es dann gleich weiter? Würde sie dort abgeholt werden? Das Ganze war so schnell gegangen. Es hatte so viel zu erledigen gegeben. Informationen, Anlernen, und Papiere, die beschafft werden mussten. Visum. Die Arbeitserlaubnis, die gerade erst bewilligt worden war und die ganze zwölf Bilder von ihr erforderte. Typisch, würde ihre Mutter sagen, du hörst nie ordentlich zu, wenn man dir etwas sagt. Und wie hätte sie das gekonnt mit all dem anderen, das ihr schon vorher im Kopf herumschwirrte? Es war ihre Schuld. Mamas. Sie bereute trotzdem, dass sie abgereist war, ohne sich richtig zu verabschieden, aber sie ertrug einfach keine weiteren Fragen, Vorwürfe und Warnungen. Du kannst da unten gekidnappt und geköpft werden. Was willst du tun, wenn du ihn findest? Er will ja nicht gefunden werden, Schätzchen. Das ist es nicht wert! Du kannst dich mit irgendwas anstecken. Ebola zum Beispiel. Denk dran, Schutzkleidung anzuziehen - und so weiter, und so fort. Es half nicht zu erklären, dass Ebola in Westafrika ausgebrochen war und nicht dort, wo sie sein würde. Im Übrigen war sie gegen die Krankheiten, mit denen sie sich vermeintlich anstecken konnte, geimpft worden. Aber ihre Mutter machte weiter: Was ist mit Tao und Anya? Der hoch geschätzte Schwiegersohn und das Enkelkind. Tao kam schon klar, und jetzt war er dran, sich allein um Anya zu kümmern. Seit sie geheiratet hatten und in die Villa in Skåde Bakker südlich von Aarhus gezogen waren, war er immer wieder für seine Firma auf Geschäftsreise gegangen, ohne einen Augenblick darüber nachzudenken, dass sie mit Anya allein war. Es war notwendig, damit sie den Lebensstandard aufrechterhalten konnten, den sie sich wünschten. Den Tao sich wünschte. Als sie aus ihrem Job in der Personalabteilung des Aarhuser Krankenhauses wegen Kürzungen entlassen wurde, hatten sie darüber gesprochen, ob sie in seiner IT-Firma angestellt werden könnte, aber es würde erst in einem Monat eine freie Stelle geben.
Sie setzte sich verloren auf einen Stuhl und betrachtete das Leben im Flughafen. Ein Geschäftsmann in einem satinglänzenden, dunklen Anzug, weißen Hemd und passenden Seidenslippern ging ruhig vorbei, als ob er auf jemanden wartete. Ihm musste warm sein, dachte sie, und zog ihre dünne Bluse aus, um ein bisschen Luft an die Haut zu lassen. Er lächelte ihr zu. Die Zähne leuchteten in dem schwarzen Gesicht auf. Weiße, dachte er sicher. Vertragen die Hitze nicht. Die halten gar nichts aus. Und es gab hier nicht viele von ihnen. Den Weißen. Hier waren sie diejenigen, die auffielen. Trotzdem lächelten all die dunklen Gesichter um sie herum. Eine Frau mit orangefarbenem Kopftuch und bunten Gewändern schenkte ihr auch ein strahlendes Lächeln. Im Schlepptau hatte sie ein kleines Mädchen in einem gelben Prinzessinnenkleid, das die kohlschwarzen Haare in einer Flut aus kleinen Zöpfen um ein süßes mahagonibraunes Gesicht trug. Sofort dachte sie an Anya und spürte das heftige Verlangen, sie zu umarmen, an ihren weichen Haaren zu riechen und ihr immer wieder zu erzählen, dass sie bald wieder zu Hause sein würde. Dass sie nur neun Mal schlafen musste. Das kleine, schwarze Mädchen schaute sie verschlossen und erstaunt an mit großen Rehaugen, umkränzt von dichten, schwarzen Wimpern. Es waren sicher ihre helle Haut und die blonden Haare, die das Mädchen wunderten. Vielleicht ihre markanten blauen Augen. Zuletzt musste das Mädchen den Kopf ganz herumdrehen, um sie zu sehen, als die Mutter sie weiterzog. Falls es ihre Mutter war. Wer wusste das?
Der Druck in der Brust verursachte ihr wieder Atemnot, dieses Mal noch quälender als zuvor. Es war ein Gefühl, das sie nicht erklären konnte. Wut, Trauer, Versagen? Sie wusste es nicht. Ein bisschen von allem und viel mehr. Sie liebte ihren Vater über alles auf der Welt, sie hatten eine Verbindung, die alle im Bekanntenkreis bemerkt hatten. Einige Freundinnen nannten sie sogar zu viel. Neid, hatte sie gemeint, und kümmerte sich nicht darum. Deswegen hatte sie das, was sie verstehen musste, erst nicht geglaubt. Das konnte nicht stimmen. Das konnte einfach nicht stimmen! Aber schließlich begriff sie, dass es wahr war. Eine Wahrheit, die ihr Leben auf den Kopf stellte, ihre Existenzgrundlage und Identität. Ob sie es wohl je erfahren hätte, wenn das Schicksal es nicht entschieden hätte? Die Krankheit und Diagnose ihres Vaters. Huntington. Eine erbliche und tödliche Krankheit, die oft im Alter von 35 bis 45 ausbricht. Und was war mit Anya? Hatte sie die Krankheit auch geerbt? Sie war in Panik geraten. Wollte nicht, dass ihr Vater auf diese Weise sterben sollte und wollte es auch selbst nicht. Dann war ihre Mutter endlich widerwillig mit der Wahrheit herausgerückt. Glaubte, sie könnte sie damit trösten. Sie und Anya waren bezüglich dieser Erbkrankheit außer Gefahr, da der Mann, den sie als ihren Vater liebte, gar nicht ihr Vater war. Nicht ihr richtiger Vater. Stattdessen war es ein unbekannter Mann, ein Samenspender, von dem nicht mal ihre Mutter wusste, wer er war. Sie wünschte, dass alles beim Alten geblieben wäre, dass sie nie dieses sechsunddreißig Jahre lang so wohlgehütete Familiengeheimnis erfahren hätte. Dann würde sie nicht hier sitzen.
Sie