Rahel Sanzara

Die glückliche Hand


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auf dem Gut ihr kochte und der den Katarrh heilen sollte. Lotte musste dabei nachts mit dem Kind auf der Treppe hocken, denn die Alte wollte in ihrer einzigen Stube Ruhe haben und schlafen. Das Kind nahm ab statt zu, und wurde immer jämmerlicher. Lotte bedrängte die Hebamme mit Bitten, den Kleinen doch wieder zu sich zu nehmen oder wenigstens eine andere Pflegestelle zu besorgen, konnte aber keines von beiden erreichen; alles war mit Erntearbeiten beschäftigt, und für ein fremdes, krankes Kind war nirgends Interesse. In ihrer Verzweiflung ging Lotte sogar ihren Patienten an, ob sie nicht das Kind oben in ihrem Stübchen haben könne, nur so lange, bis es wieder gesund sei. Der alte Herr lächelte liebenswürdig, tätschelte Lottes Hand, meinte aber, er schätze Szenen mit Baronin Elfriede allzuwenig und sei nicht mehr jung genug, um es mit weiblicher Borniertheit aufzunehmen – er konnte sich aber auch nicht enthalten, entsprechend seiner Lebensauffassung die zweifelnde Frage an Lotte zu stellen, ob sich denn überhaupt im Allgemeinen die rührenden Anstrengungen der Mütter lohnten?

      Über die Antwort auf diese Frage dachte Lotte keine Sekunde nach, sondern sie tat etwas Feiges und Mutiges zugleich: Sie ließ sich unter dem Vorwand, das Kind in einem Heim unterbringen zu wollen, von dem alten Baron, der aus egoistischen Gründen mit diesem Plan einverstanden war, ihr Gehalt für den kommenden Monat vorausbezahlen – denn immer hatte sie die Vorstellung, dass sie vor allem mit Geld versehen sein müsse –, dann packte sie nur das Nötigste in einen kleinen Koffer zusammen, verließ mit ihm nachts das Haus, hockte sich bei der Bäuerin wie gewöhnlich mit ihrem Kind auf die Treppe, schlich sich aber nach einiger Zeit auch hier davon. Sie wanderte mit Kind und Köfferchen über eine Stunde weit in der mondlosen Dunkelheit bis zur nächstgelegenen Bahnstation, und nach weiteren Stunden des Wartens bestieg sie im Morgendämmer den in Frage kommenden Zug und fuhr heim.

      IV

      Es war ein heißer Sonntagnachmittag im August, als Lotte, müde, hungrig und erschöpft, mit ihrer Last im Arm, an der elterlichen Wohnungstür klingelte. Die Mutter öffnete. So streng und verschlossen sie auch war, leuchtete ihr Auge doch auf, als sie ihr einziges Kind so unerwartet vor sich erblickte. Sie ließ Lotte eintreten, schalt aber sogleich währenddem, warum Lotte auf ihre Briefe nicht ausführlich geantwortet habe, und wie es denn nun eigentlich mit dem Gelde sei, ob sie es sich etwa um versprochener höherer Zinsen halber habe abschwindeln lassen – das Reellste sei und bleibe doch die Sparkasse, darin könne sie schon der Mutter vertrauen, auch sei es nicht christlich, zu hohem Gewinn nachzustreben. Da Lotte auf nichts antwortete, fragte die Mutter, was denn mit dem Säugling wäre, wem er gehöre und ob Lotte ihn wohl in eine Klinik bringen solle.

      Sie waren indessen in die Wohnküche der kleinen Wohnung eingetreten. Lotte setzte sich aber nicht auf die Aufforderung der Mutter hin, blieb mit wankenden Knien stehen und sagte leise:

      „Nein, das ist mein Hermann!“

      Das Gesicht der Mutter erstarrte für eine Sekunde in bösem Schrecken, dann wollte es zu dem gewöhnlichen Ausdruck zurückfinden, als die Mutter in der üblichen Tadelsweise sagte, seit wann denn in ihrem Heim solche dummen Witze gemacht würden. – Zugleich aber fand sie mit dem Instinkt der Frau Lottes voller gewordene Gestalt, ihr erblühtes und regsameres Gesicht verdächtig, und, als wolle sie etwas Schlimmes im letzten Augenblicke noch verhüten, trat sie jäh auf die Tochter zu, riss ihr das Kind aus den Armen und legte es auf das Kissen in ihrem Lehnstuhl am Fenster. – Der Vater, der auf dem Sofa noch seinen Sonntagnachmittagsschlaf gehalten hatte, kam langsam zu sich, erhob sich, und während allmählich Freude sein weitzügiges, etwas unregsames Gesicht, das dem der Tochter ähnelte, überzog, sagte er schwerfällig: „Na, Lottchen, mein Kind, das ist aber eine Überraschung!“

      Von der klugen, harten Mutter floh Lotte zu ihrem Vater hin, beugte sich zu ihm nieder, drückte ihre Wange gegen seinen stacheligen Bart, ließ sich von ihm den Rücken zärtlich klopfen, und schließlich schmiegte sie sich ganz fest gegen seine Schulter, zitterte und sagte, aufgerührt, schluchzend, halb angstvoll flehend, halb hingerissen von ihrem Glück, ihr Bekenntnis: „Vater, das ist mein kleiner Hermann!“

      Der Vater rührte sich nicht, so schnell konnte er nicht begreifen. Die Mutter aber fragte nach nichts mehr. Von hinten riss sie die Tochter hoch, drehte sie mit einem Schwung zu sich herum und schlug sie in das Gesicht. So rasend schnell fielen die Schläge, dass die ohnedies erschöpfte Lotte nicht einmal dazu kam, sich mit den Händen zu schützen. Ihre Schwesternhaube fiel vom Kopfe, ihre braunen Flechten lösten sich auf, aus der Nase sickerte Blut. Die Mutter schlug, bis die Tochter gegen den Küchenschrank taumelte.

      Lotte ächzte leise, wehrte sich nicht. Da aber begann das Kind auf dem Lehnstuhl zu wimmern, und das ließ im selben Augenblick die Tochter der Mutter einen Stoß versetzen, dass sie weit wegtaumelte – und Lotte war bei ihrem Kind! Tobend vor Empörung wollte die Mutter ihr nach. Doch der Vater, der bis jetzt regungslos auf dem Sofa gesessen und verständnislos die Szene angestiert hatte, trat nun mit einem Schritt dazwischen und sagte mit seiner tiefen, rauen Stimme ganz ruhig: „Nun lass mal, Frau, das wird ja nun doch nicht wieder anders.“ Er zog mit einem Griff seiner kräftigen Maurerfäuste die erhobenen Arme seiner Frau herab und schob sie von ihrer Tochter zurück, die, eine weinende und gezüchtigte Mutter, sich über ihr greinendes Kind beugte.

      Die alte Frau tobte sich nun in einem furchtbaren Ausbruch von Schimpfreden über die Tochter aus. Es war, als ob nie ein Funke warmen Gefühls für ihr Kind je in ihr gewesen sei, und als ob diese einfache Frau in der Tochter nur das verjagen und nahezu vernichten wollte, was sie so furchtbar traf: Die Enttäuschung an einem Lebenswerk, die verlorene Illusion. Sie schrie in hellen Tönen, wie wahnsinnig vor Wut, dass sie dieses liederliche Stück Mensch nicht mehr sehen wolle, dass sie dieses undankbare Ding, das sie mit aller Mühe aufgezogen, das sie etwas habe werden lassen, mehr als sie selbst, an das sie Geld gewendet habe, und das nun so vor sie hinträte, dass sie das keinen Augenblick mehr in ihrer Wohnung haben wolle – hinaus! mir sofort aus den Augen! hinaus aus meiner Wohnung, sofort, sofort! – und die Frau, halb besinnungslos, strebte von Neuem auf die Tochter zu.

      Wieder wurde sie von dem Mann gebändigt, dessen Griffen sie sich nicht entwinden konnte, so sehr sie mit Schimpfworten nun auch gegen ihn tobte und mit aller Kraft sich wand und loszureißen suchte. Obwohl der Mann seine Frau noch niemals so gesehen hatte, denn sie war stets und in allem auf eine merkwürdig strenge Art still, verschlossen und beherrscht gewesen, beachtete er ihr Gebaren doch kaum. Seine wassergrauen Augen hingen an dem Säugling, auf dessen zartem, von der Krankheit eingefallenen Gesichtchen. Und als das Kind den kleinen Finger seiner Mutter, den ihm diese in der Verwirrung entgegenhielt, um sein Weinen zu beruhigen, mit dem winzigen Mund umschloss, da legte sich ein gütiges Lächeln auf des Vaters breite Lippen und Wangen. In der seltsamen Stellung, nach hinten mit den Fäusten seine tobende Frau haltend, während sein Kopf nach vorn zu dem Kind hingewendet war, sagte er in eine Atempause der kreischenden Frau hinein mit vor Zärtlichkeit warmer Stimme: „Aber doch so ein niedliches Jungchen, der Hermann.“

      Da riss sich die Frau doch noch von ihm los, aber sie wich zurück, warf sich auf das Sofa – und nun begann sie mit Gott zu hadern, immer wieder fragte sie, was sie denn verbrochen habe, um so gestraft zu werden. Schließlich endete ihre Aufregung in einem Weinkrampf.

      Lotte, die kaum ihr Nasenbluten gestillt hatte, sprang hinzu, legte Essigumschläge auf die Stirn der Mutter, massierte ihr die Herzgegend, während der Vater, sich um nichts kümmernd als um seine neue Freude, das Kind behutsam auf die Arme nahm und es im kleinen Raume auf und nieder trug, worauf es sofort sein Weinen einstellte.

      Nach dem ersten Schock holte Lotte für die Mutter aus der kleinen Hausapotheke, die sie einst selber eingerichtet hatte, beruhigende Tropfen herbei, welche die Mutter auch annahm und unter deren Einwirkung sie einschlief. Auf dem nun endlich wieder zur Ruhe gekommenen Gesicht der alternden Frau lag ein Ausdruck tiefsten Grames, und obwohl eben erst durch den enttäuschenden Schlag empfangen, schien er doch schon so fest eingeprägt, als sei er die Summe vieler bitterer Jahre. Aber Lotte hatte so wenig Mitgefühl und Begreifen für die Mutter, als die Mutter für sie – und sie eilte von der kaum Eingeschlafenen fort, holte aus dem Köfferchen frische Tücher herbei, legte das Kissen vom Lehnstuhl auf den Tisch und band ihr Kind frisch ein, wobei ihr der Vater zusah.

      „Getauft ist er