Rahel Sanzara

Die glückliche Hand


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diesen Fragen berührt worden, und eine Sekunde lang dachte der Vater die Worte seiner Frau nach: Seine Tochter war eben doch ein liederliches Frauenzimmer gewesen. Sie hatte es vielleicht nicht schlimmer getrieben, als alle anderen in der Großstadt aufgewachsenen Mädchen – auch auf dem Lande hatte es ja immer solches Weiberpech gegeben –, aber sie hatte es eben doch genauso getrieben, und auch er hegte wie seine Frau, nur stiller und tiefer, den Wunsch und die Vorstellung, dass seine Tochter etwas Besonderes sein müsse. – Dennoch rührte es ihn immer wieder, wie sie da mit ihrem kleinen Hermann hereingekommen war, und wie sie es ihm leise gesagt hatte. Freilich, wie nun alles werden würde, war ganz unsicher. Würde Lotte weiterhin ihrem Beruf nachgehen können? Er selbst hatte ja augenblicklich noch guten Verdienst, es war Frühherbst, die Bautätigkeit noch in vollem Gang, einiges war auch zusammengespart. Allerdings war es nicht für so etwas gedacht. Aber nach dem Vater des Kindes zu fragen, und danach, ob er etwas zahlen würde, vermochte er nicht. Er sagte nur in etwas strengerem Tone als vorher zur Tochter: „Na, jedenfalls, an dem Kinde kann man so etwas nicht entgelten lassen.“

      Lotte schluchzte auf, nahm ihr Kind und ging in die Schlafstube, um es zu stillen. Dann wusch sie ihr noch von Reisestaub und von dem Nasenbluten verschmutztes Gesicht, brachte ihr Haar in Ordnung, packte ihr Köfferchen aus und machte dem Vater das Abendbrot zurecht, wobei sie selbst endlich ihren mörderisch brennenden Hunger stillen konnte. Der Vater ging nach dem Essen aus, zu einer Kegelpartie im Freien, das hieß zu einem Kegeispiel auf der im Garten gelegenen Bahn eines Sommerlokales. Er ging nur alle vierzehn Tage zum Kegeln aus, sonst nie, denn er war ein sparsamer, nüchterner Mann.

      Als er fort war, machte Lotte leise wie eine Fee Wasser warm für ihr Kind, wusch es, bereitete ihm Fencheltee, welchen sie ihm löffelweise einflößte. Sie hatte keine Ahnung, dass die Mutter unter halbgeschlossenen Lidern ihr Gehaben beobachtete. Als das Kind schlief, machte Lotte ein kleines Nachtlämpchen zurecht und setzte sich in eine dunkle Ecke zur Wache bei ihrer Mutter nieder. Die alte Frau tat, als ob sie schliefe, schlief auch wirklich ein, erwachte wieder, sah Lotte noch immer da hocken, regte sich aber nicht, und trieb das Spiel des Einschlafens und Aufwachens die ganze Nacht hindurch, bis sie im Morgengrauen merkte, dass die Lampe ausging und Lotte auf ihrem Stuhl in der Ecke eingeschlafen war. Da faltete sie die Hände zum Gebet und flehte um Verzeihung dafür, dass sie mit Gott gehadert habe, und bat den Erlöser, ihr zu helfen, ihr Kreuz auf sich zu nehmen, wie er das seine auf sich genommen. Danach richtete sie sich auf. Sofort erwachte Lotte und trat zur Mutter hin. Noch schlaftrunken und umhüllt von der Dämmerung fand die Tochter den Mut, die Mutter zu fragen: „Soll ich wirklich aus dem Haus? – Ich bin nur deshalb gekommen, weil der Kleine so krank war.“

      „Das war auch deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit“, sagte die Mutter kalt und streng, „sieh zu, dass du Geld verdienst. Das ist jetzt die Hauptsache – und wenn du als Dienstmädchen gehen musst, oder –“, in einer zagen, tollkühnen Hoffnung, „hast du vielleicht Aussicht, bald zu heiraten?“

      „Ich habe nur das Kind“, antwortete Lotte.

      „Na also.“ Damit stand die Mutter auf. Auch sie fragte in Zukunft nie nach dem Vater des Kindes. Sie war beruhigt und empört zugleich, als es Lotte gelang, ohne Weiteres wieder in der Klinik, in der sie gearbeitet hatte, anzukommen. Die Frau, selbst darunter leidend, dass sie wahrer Demut nicht fähig war, hätte lieber erlebt, die Ordnung der Welt, so wie sie sie sah und wie sie Geltung und Lebenshalt von ihr empfing, hätte ein Wesen, das so gefehlt hatte wie ihre Tochter, geächtet und ausgestoßen, auch wenn sie selbst, die Mutter, zuletzt doch nicht Kraft und um ihrer eigenen Fehle willen auch wohl nicht das Recht gehabt hatte, sie aus der Wohnung zu weisen.

      Lotte hatte sofort ihr ganzes Geld der Mutter ausgeliefert. Es gab für sie in dieser Hinsicht nur noch einen aufregenden Briefwechsel mit dem Gutshaus, für das Baronin Elfriede zeichnete, und das ihre zurückgelassenen Sachen nicht schicken wollte, sondern auf Rückzahlung des im Voraus gezahlten Geldes bestand, die Lotte in drei Monaten auch bewerkstelligte. Danach erhielt sie ihr erbetenes Eigentum zugesandt. Lotte hätte gern dem alten Baron noch ein paar Zeilen geschrieben, ihn um Verzeihung gebeten, ihm eine andere, nichtschwätzende Schwester empfohlen, doch sie wusste nicht, wer ihm den Brief vorlesen würde, und ob man ihn überhaupt vorlesen würde, und ob die junge Baronin zuließe, dass man ihr eine Antwort gebe. Mitten im schon wieder fest eingelaufenen Geleise der nächsten Monate aber erhielt Lotte unverhofft einen Brief von dem Wirtschaftsfräulein auf dem Gute, und darin wurde ihr mitgeteilt, dass ein angesehener, junger Inspektor aus der ferneren Umgegend plötzlich bei dem Fräulein aufgetaucht sei und sich eindringlich nach Lotte erkundigt habe – das Fräulein habe aber nun nicht gewusst, solle sie ihm Mitteilung von dem besonderen Schicksal Lottes machen oder nicht, er jedenfalls habe immer wieder gesagt, dass er so viel daran denken müsse, wie er mit der Berlinerin getanzt habe, auf dem Kirchweihfest damals, und sie sei so sanft gewesen, wie bald nicht eine Frau, die er kenne. Ob Lotte sich denn nicht an ihn erinnere?, fragte die aufgeregte Schreiberin. So und so ungefähr sähe er aus. Und ob sie, das Fräulein, ihm auch wieder einen Gruß bestellen solle, wenn sie ihn noch einmal träfe. – Lotte aber lachte vor sich hin: Sie hatte anderes zu tun, als sich an irgendwen zu erinnern.

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