Jana Hensel

Der Weihnachtsmann und ich


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war immer pünktlich fertig, aber zögerte es hinaus loszugehen, weil sie nicht die Erste im Klassenraum sein wollte. Ich liebte meine Familie, aber ich liebte auch den Moment, wenn sie verschwand und aus unserem Leben mein Leben wurde.

      Umso mehr bereute ich es jetzt, dass ich mich von Pauls Erzieherin hatte überreden lassen, in diesem Jahr als Weihnachtsmann im Kindergarten aufzutreten. Viel lieber wäre ich durch den langen Flur ins hintere Zimmer der Wohnung gegangen, hätte mich an den Schreibtisch gesetzt und mit der Arbeit begonnen. Der Verlag drängte schon.

      Stattdessen ging ich ins Bad. Dort stellte ich mich vor den Spiegel und begann, meine Augenbrauen mit der weißen Schminke zu übermalen, die vom letzten Fasching übrig geblieben war. Sie klebte und klumpte ein bisschen, aber deckte gut. Meine Augenbrauen waren so schwarz wie die meines Vaters, als er noch ein junger Mann gewesen war. Und weil ich befürchtete, dass sie mich verraten könnten, trug ich so lange Farbe auf, bis sie so weiß wurden wie die Augenbrauen meines Vaters mit den Jahren. Ich hatte als Kind dabei zusehen können, wie immer mehr silbrige Strähnen das volle schwarze Haar meines Vaters durchzogen. Schon bei meinem Schulanfang hatte er graue Schläfen. Da musste er um die dreißig gewesen sein. Manche Leute begannen ihn damals für den Vater meiner Mutter zu halten. Und obwohl sie nur drei Jahre jünger war als er, wurde der eigentlich gar nicht so große Altersunterschied mit der Zeit immer deutlicher. Bis heute hat sie das Gesicht eines Mädchens behalten.

      Vielleicht aber wollten jene Leute, die behaupteten, mein Vater sähe mit Anfang dreißig sehr viel älter aus, als er tatsächlich war, ihm auch nur eins auswischen, weil nicht sie die Idee mit dem Weihnachtsmann gehabt hatten, sondern er. Ich wusste nicht, warum mein Vater damit angefangen hatte, in unserem Viertel in Leipzig den Weihnachtsmann zu spielen. Aber ganz sicher stahl er einigen damit jedes Jahr die Show. Ich hatte seine Auftritte selbst miterlebt. Ich war sein erstes Publikum gewesen, und später durfte ich ihn auf seiner Tour begleiten. Seither wusste ich, dass zumindest die zweite Behauptung, die ich immer wieder über meinen Vater hörte, nicht stimmte. Es hieß, er hätte keinen Humor. In Wahrheit aber hatte mein Vater nur einen anderen, vielleicht etwas seltsamen Humor.

      Als vor ein paar Tagen morgens kurz nach sieben das Telefon klingelte, wusste ich sofort, dass er es war. Es gab keinen anderen Menschen auf der Welt, der mich um diese Uhrzeit anrufen würde. Obwohl er längst aufgehört hatte zu arbeiten, stand er immer noch jeden Morgen halb sechs auf und vertrat die Meinung, dass nichts, aber auch gar nichts dagegen einzuwenden war, eineinhalb Stunden nach dem Aufstehen bei seiner Tochter anzurufen, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab. Und bevor ich sagen konnte, dass ich später zurückrufen würde, fragte er verschwörerisch: „Ist es angekommen?“

      „Ja“, sagte ich, „ist es.“

      „Hast du es schon aufgemacht?“

      „Nein“, sagte ich, „es ist ja erst kurz nach sieben.“

      „Aber wie kannst du dann wissen, dass es drin ist?“

      „Aber Vati, was soll denn sonst in dem Paket sein, das du mir geschickt hast?“

      „Ich weiß nicht“, sagte er, „ihr bekommt doch ständig irgendwelche Pakete.“

      „Das stimmt doch gar nicht“, sagte ich.

      Doch, doch, meinte er. Er hätte es ja bei seinem letzten Besuch gesehen, wie sich die Pakete in unserem Flur stapelten. Dabei hatte ich ihm schon damals erklärt, dass das nicht unsere Pakete, sondern die der Nachbarn waren. Ich sie also nur angenommen hatte, weil ich offenbar die Einzige in unserem Haus war, die zu Hause arbeitete und dem Postboten die Tür öffnen konnte. Aber er ließ sich nicht davon abbringen, es könnte sich bei dem Paket, das ich am vorangegangenen Abend erhalten hatte, um ein anderes als das von ihm an mich abgeschickte handeln. Ich versprach ihm, gleich nachzusehen, sobald die Kinder in der Schule und im Kindergarten waren. Aber auch das schien ihn nicht zu beruhigen. Beim Auflegen sagte er: „Und vergiss nicht, ein Weihnachtsmann benutzt nie eine Klingel!“

      Natürlich war in dem Paket genau das, worum ich meinen Vater gebeten hatte. Sein Weihnachtsmannkostüm. Er hatte es, wie immer, wenn er mir einmal ein Paket schickte, sicherlich an der Poststation in der Hans-Marchwitza-Straße aufgegeben und dabei ein paar Worte mit der Frau oder dem Mann hinter dem Tresen gewechselt. Ein kleines unverbindliches Gespräch, über das Wetter oder eine Baustelle an der nächsten Ecke, wie es seine Art war, um den Dingen nicht einfach ihren Lauf zu lassen. Und wie immer, wenn mein Vater mir ein Paket schickte, war auch dieses rechtzeitig bei mir in Berlin angekommen. Ich hatte, als ich es später auf den Küchentisch stellte und mit der Schere die Klebestreifen aufzuritzen begann, keinerlei Zweifel daran, was in dem Paket sein würde. Ich bezweifelte auch nicht, dass der Anblick des alten Weihnachtsmannkostüms bei mir irgendetwas auslösen könnte. Aber als ich den Deckel des Pappkartons auseinanderklappte und der Inhalt zum Vorschein kam, musste ich für einen Augenblick meine Hand auf den rauen Stoff legen, aus dem meine Mutter das Kostüm einst genäht hatte.

      Es kratzte ein wenig auf der Haut, wenn man darüber strich. Das wusste ich noch. Und es hatten sich vom häufigen Tragen Knötchen an den Innenseiten der Ärmel gebildet. Ganz bestimmt war meiner Mutter keine große Auswahl angeboten worden, als sie Ende der siebziger Jahre in Leipzig einen festen roten Stoff hatte kaufen wollen. Sehr wahrscheinlich war es sogar nur dieser eine gewesen, von ganz gewöhnlichem Rot, weder zu hell noch zu dunkel, aber genau richtig für ein Weihnachtsmannkostüm. Ob sie beim Einpacken auch daran gedacht hatte, dass es in der DDR sehr viel weniger solcher Stoffe gegeben hatte als später, dass aber mein Vater in diesem Kostüm auch nach der Wende immer noch aussah, wie ein Weihnachtsmann aussehen musste? Ich wusste es nicht. Wir sprachen nicht oft über dieses Davor und Danach. Es fiel mir, anders als bei meinem Vater, sehr viel schwerer, mir vorzustellen, worüber sie nachdachte und worüber nicht. Aber ich konnte sehen, dass sie es gewesen war, die das Weihnachtsmannkostüm für die Reise nach Berlin eingepackt und dabei die Ärmel der Jacke ineinander verschränkt hatte. Meinem Vater wäre dieses Detail nicht wichtig gewesen. Es sah aus, als hielten sie etwas umfangen, als umarmten sie jemanden.

      Vorsichtig nahm ich die Jacke aus dem Karton und legte sie auf den Küchentisch. Darunter fand ich eine kleine silberne Tüte mit der Aufschrift „Exquisit“. Jetzt musste ich doch ein bisschen lachen. Denn ausgerechnet den alten Weihnachtsmannbart in eine Plastiktüte zu stecken, die in der DDR für sogenannte Luxuswaren hergestellt worden war, darauf konnte wiederum nur mein Vater kommen. Andererseits hatten meine Eltern die Verpackung offenbar über all die Jahre aufgehoben, um irgendwann noch einmal etwas Besonderes darin verschicken zu können. Etwas, das nicht vergessen werden sollte. Und plötzlich erschienen mir die Befürchtungen meines Vaters gar nicht mehr so unbegründet, es könnte etwas verloren gehen, was nicht verloren gehen darf. Als wäre dieses Paket nicht irgendein Paket, das von einer Stadt in eine andere geschickt wurde, sondern käme aus einem Land, das es nicht mehr gab, und dürfte seine Empfängerin im Hier und Jetzt nicht verfehlen. Aber vielleicht reimte ich mir das auch alles nur zusammen, weil ich selbst das Vergangene immer dann am meisten vermisste, wenn ich spürte, dass ich lange, manchmal zu lange, nicht mehr daran gedacht hatte.

      Im Gegensatz zu meinem Vater zeigte sich bei mir sogar mit Anfang vierzig noch kein einziges graues Haar. Lang und dunkel fiel es auf meine Schultern. Über den nun schneeweißen Augenbrauen wirkte der Pony fast schwarz. Ich trat etwas näher an den Spiegel heran, drehte mich ein wenig nach links und ein wenig nach rechts und überlegte, wie ich all die Haare unter die Mütze bekommen sollte, die bei meinem Vater immer leicht wie ein Hütchen auf dem Hinterkopf gethront hatte. Sie war aus demselben roten Filzstoff geschneidert wie Jacke und Hose, um den Rand bauschte sich ein Streifen Watte, und an ihre Spitze hatte meine Mutter eine kleine Bommel genäht. Da meine Haare immer wieder unter ihr hervorrutschten, stopfte ich sie zunächst unter eine dieser Duschhauben, die ich aus einem Hotel mitgenommen hatte, und stülpte erst dann die Mütze darüber. Am Ende stand sie etwas steif, wie die Mütze eines Bischofs, in die Höhe und die Bommel wirkte wie ein Schneeball, den man obenauf gelegt hatte. Aber, so entschied ich mit einem letzten Blick in den Spiegel, das würde den Kindern sicher nichts ausmachen. Sie würden sich über den Weihnachtsmann, den ich heute für sie spielte, genauso freuen, wie sich die Kinder früher über meinen Vater als Weihnachtsmann gefreut hatten. Hauptsache, Paul erkannte mich nicht.

      Ich