Jana Hensel

Der Weihnachtsmann und ich


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konnte etwas sehr Verräterisches sein. Genauso wie die Hände. Deshalb nahm ich den schmalen goldenen Ring ab, den Daniel mir einmal geschenkt hatte, und legte ihn auf meinen Schreibtisch neben den Zettel, den ich ganz unten im Paket gefunden hatte. Es war eine lange Liste von Regeln, die ein Weihnachtsmann unbedingt beachten sollte. Mit seiner etwas steilen und dennoch schwungvollen Schrift hatte mein Vater sie für mich aufgeschrieben und als Erstes, vor allen anderen Dingen, in das Paket hineingelegt, weil er offenbar bezweifelte, dass seine Tochter, die seit ihrem letzten gemeinsamen Auftritt durch die ganze Welt gereist und, wie er fand, in der Fremde zu Hause war, sich noch daran erinnern würde. Aber da irrte er sich. Ich erinnerte mich sehr wohl. Doch das konnte er nicht wissen. Das hatte ich ihm nie erzählt.

      Wenn man fortgeht, vergisst man nicht. Im Gegenteil. Als mir einmal in New York ein Weihnachtsmann auf der Straße begegnete, schaute ich sofort auf seine Hände. Hatte er den Ring abgenommen? Er hatte Handschuhe an. Vielleicht, weil ihm kalt war. Vielleicht aber auch, weil es jemanden gab, der ihm beigebracht hatte, auf keinen Fall die Handschuhe zu vergessen, wenn er nicht an seinen Händen erkannt werden wollte. Damals hätte ich meinen Vater gern angerufen, um ihm von der Begegnung mit dem anderen Weihnachtsmann zu erzählen, aber er mochte es nicht, wenn ich ihn von weit weg anrief, schon gar nicht zu Weihnachten. Er könne die Entfernung durchs Telefon hören, sagte er immer. Deshalb wusste er nicht, dass all die Dinge, die wir gemeinsam erlebt hatten, mit mir durch die Welt reisten. Ganz sicher brauchte man die kleinen Tricks, die verhinderten, dass man als Weihnachtsmann aufflog, nicht allzu oft. Genau genommen, hatte ich sie in den vergangenen Jahren nicht ein einziges Mal gebraucht. Trotzdem waren sie mir noch so vertraut wie die Schrift meines Vaters. Es war dieselbe Schrift, mit der er früher die Postkarten geschrieben hatte, die er mir ins Ferienlager schickte.

      Auch jetzt rief ich ihn nicht an. Obwohl es viel einfacher gewesen wäre als damals in New York. Irgendwann hatte ich angefangen, ihm und meiner Mutter Briefe zu schreiben, weil er so ungern von mir aus der Ferne angerufen wurde. Ob er sie noch aufbewahrte, diese Briefe, so wie ich seine Postkarten? Ich hatte darin von meinem Leben in den fremden Städten erzählt, davon, wo ich arbeitete und was ich in der Zeit nach der Arbeit tat. Wie es sich anfühlte, so weit fort von zu Hause zu sein, erwähnte ich in den Briefen nicht. Denn dann hätte ich von den Menschen schreiben müssen, denen ich begegnete, von denen einige sogar meine Freunde wurden, die aber nichts wussten von unserem Leben in der DDR. Wenn sie mich fragten, wie es war when the wall came down, oder wissen wollten, wo ich in der Nacht des Mauerfalls gewesen war, und ich versuchte, es ihnen zu erklären, schauten sie mich ungläubig an. In ihrer Welt hatte es weder eine Mauer noch einen Mauerfall gegeben. Ich befürchtete wohl, mein Vater und meine Mutter könnten es für Heimweh halten, wenn ich das, was ich nach diesen Gesprächen empfand, für sie in Worte gefasst hätte. Und vielleicht hätten sie damit sogar recht gehabt. Aber es war ein Heimweh, das durch eine Heimkehr nicht zu lindern gewesen wäre.

      Als ich Daniel kennenlernte, konnte ich aufhören, durch die Welt zu reisen. Von dem Ort, an dem ich aufgewachsen war und an dem meine Eltern immer noch wohnten, hatte ich mich da schon weiter entfernt, als sich in Kilometerzahlen ausdrücken ließe. „Heimat ist ein Raum aus Zeit“, hatte ich neulich auf einem Filmplakat gelesen. Nun, da mich der raue, etwas abgetragene Stoff umhüllte, rückten die Erinnerungen an diesen Raum wieder näher. Zum ersten Mal seit Langem.

      Ein Krankenwagen fuhr mit heulender Sirene über die Danziger Straße, als ich vor unser Haus trat. Wir wohnten in einem Eckhaus, dessen eine Hälfte auf die Seite der großen, belebten Straße zeigte, während die andere, unsere Hälfte, in eine kleine Nebenstraße führte. Gewöhnlich nahm ich den Weg durch die Danziger Straße zum Kindergarten. Ich mochte die breiten Gehwege. Dicht an dicht reihten sich Kioske, Friseursalons und Imbisse und verbreiteten eine etwas raue, flüchtige Atmosphäre. Wenn ich den ganzen Tag allein am Schreibtisch gearbeitet hatte, tauchte ich gern in die Menschenmenge ein, die hier zu jeder Tageszeit unterwegs war. Jetzt aber wollte ich am liebsten niemandem begegnen.

      Ich hatte mich an meine Verkleidung zwar schon fast gewöhnt, aber das hieß ja nicht, dass es den Menschen, die an mir vorübergehen würden, genauso ging. Ganz bestimmt würde ein Weihnachtsmann auf einer großen Berliner Straße einiges Aufsehen erregen. Zumal eine Woche vor Heiligabend. Die Menschen liebten Weihnachtsmänner. Andererseits neigten sie dazu, sich über sie lustig zu machen. Mein Vater hatte immer eine Antwort parat gehabt, wenn ihm Scherze zugerufen worden waren. Mir aber fehlte die Übung.

      Ich blieb noch einen Moment vor der Tür unseres Hauses stehen und atmete tief ein und aus. Der Bart hob und senkte sich jedes Mal ein wenig. Und vor meinem Mund bildeten sich kleine Wölkchen, die hinauf in den grauen Winterhimmel stiegen. Der Himmel hat heute geschlossen, sagte Paul immer, wenn kein einziger Sonnenstrahl durch die Wolkendecke drang. Sicher wartete er schon. Genau wie die anderen Kinder. Nicht um mit mir Scherze zu treiben, so etwas käme Kindern nicht in den Sinn, sondern um sich von mir überraschen zu lassen. Noch einmal holte ich tief Luft, dann machte ich einen großen Schritt nach vorn, so als würde ich auf eine Bühne steigen, und lief mit dem schweren Gang, den ich in der Wohnung geübt hatte, unsere Straße hinunter.

      Am späten Vormittag war hier kaum etwas los. Die wenigen Geschäfte hatten noch geschlossen, und die Geräusche, die mich gerade noch umgeben hatten, verloren sich allmählich im Hintergrund. An der nächsten Ecke bog ich rechts ab auf die Sredzkistraße, und nach einigen Metern auf dieser ebenfalls ruhigen, aber etwas gediegeneren Straße kamen mir zwei junge Frauen mit ihren Kinderwagen entgegen. Ich nickte leicht mit dem Kopf und grüßte in die Richtung ihrer offenbar schlafenden Babys. Eine der Frauen hatte beim Näherkommen ihr Telefon herausgeholt und ein Foto von mir gemacht. Ich blieb kurz stehen und drohte ihr scherzhaft mit dem Zeigefinder. Sie lachte hell auf. Dann liefen beide plaudernd an mir vorbei.

      Neben uns auf der Straße hatte währenddessen ein Transporter von UPS gehalten, und als der Fahrer mich sah, tat er so, als würde er mir das Päckchen, das er gerade aus dem Frachtraum geholt hatte, zuwerfen wollen. Natürlich schnellten meine Hände unwillkürlich nach vorn, woraufhin er meinte, ich sei für mein Alter noch ganz gut in Schuss. Ich lachte mit verstellter, tieferer Stimme und fasste mich an den Rücken, als schmerzte es dort irgendwo. Es waren die Scherze, die ich erwartet hatte. Das Ganze begann mir ein bisschen Spaß zu machen. Schon von Weitem sah ich, dass Arthur, der freundliche Kioskbesitzer, bei dem ich immer meine Zeitung kaufte, hinter seiner Theke hervorgekommen war und den Kopf zur Tür herausstreckte. Ich strich mir über den Bart, um zu prüfen, ob er noch richtig saß.

      „Hast du denn keine Geschenke dabei?“, rief er mir entgegen und trat vor die Tür seines Ladens. Da er mich offenbar nicht erkannte, blieb ich auf dem Gehweg stehen und antwortete ihm mit der Weihnachtsmannstimme meines Vaters: „Erst die Kinder, erst die Kinder, mein Lieber.“

      „Aber wo hast du denn den Sack mit den Geschenken?“, ließ er nicht locker.

      „Den habe ich mit UPS vorausgeschickt“, antwortete ich, nicht besonders originell, aber auf die Schnelle war mir nichts Besseres eingefallen. Schließlich konnte ich ihm nicht sagen, dass Pauls Erzieherin an der nächsten Ecke auf mich wartete, um mir heimlich den Sack mit den Geschenken für die Kinder zu übergeben. Wichtig war nur, dass man sich von unvorhergesehenen Fragen nicht aus der Fassung bringen ließ. Das hatte mein Vater ziemlich weit oben auf den Zettel mit den Weihnachtsmannregeln geschrieben. Für Arthur zumindest schienen damit aber alle Fragen, die er an den Weihnachtsmann hatte, beantwortet. Er wünschte mir einen guten Tag und bat mich, vorsichtig zu sein, es würde bald anfangen zu schneien und auf den Gehwegen glatt werden. Dann wandte er sich zur Tür, um zurück in seinen Laden zu gehen. Weil ich aber so erleichtert war, dass er mich nicht erkannte, und seine Fragen mich nur ein klein wenig aus der Fassung gebracht hatten, fragte ich ihn zum Abschied übermütig, ob denn die „Berliner Zeitung“ schon wieder ausverkauft sei? Verwundert drehte er sich noch einmal um und kniff die Augen zusammen, als wäre er kurzsichtig. Dann ging er in seinen Laden, kam mit einer Ausgabe der „Berliner Zeitung“ von heute zurück und überreichte sie mir mit den Worten: „Geschenkt, mein Lieber. Weihnachtsmänner müssen bei mir nicht bezahlen.“ Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Schnell wandte ich mich zum Gehen und schwenkte zum Abschied die zusammengerollte Zeitung über