massenhaften Arbeits- und Transmigrationsbewegungen von Osten nach Westen.
Einen Höhepunkt erreichte die »polnische Abwehrpolitik« 1885, als eine große Zahl von »Russisch-Polen« aus den östlichen Provinzen Preußens ausgewiesen wurde. Personen, die teilweise seit Generationen dort lebten und sich ihres formaljuristischen Status als Ausländer nicht einmal bewusst waren, wurden binnen einiger Tage ausgewiesen oder regelrecht vertrieben. Als entscheidendes Kriterium definierte die amtliche Statistik die Abstammung – nicht aber die Sprachkenntnisse oder die nationale Selbstzuschreibung der Betroffenen. Das zeigt sich klar im Wortlaut der preußischen Ausweisungsbefehle von 1885:
[D]a festgestellt worden ist, daß Sie durch Ihre Abstammung, wenn auch der deutschen Sprache mächtig, zu der Kategorie der gedachten Ausländer gehören, werden Sie im Auftrag der Landespolizeibehörde hiermit angewiesen, Ihren gegenwärtigen Aufenthalt […] und das preußische Staatsgebiet […] mit ihren Familienangehörigen zu verlassen und sich auf dem kürzesten Wege nach Ihrem zukünftigen Aufenthaltsort im Auslande zu begeben.1
In derartigen Prozessen begann sich die binäre Vorstellung von ›Deutschen und Ausländern‹ herauszubilden, die bei der Volkszählung 1890 erstmals in die neuen statistischen und rechtlichen Kategorien des »Reichsangehörigen« und des »Reichsausländers« gegossen wurde. Diese formaljuristische Unterscheidung zwischen Deutschen und Ausländern wurde laut der Historikerin Léa Renard zwar erst nach zwei Weltkriegen »auch zu einer lebensweltlichen, alltagspraktischen Kategorisierung«.2 Doch der Definitionsprozess dessen, wer Deutsche*r war und wer nicht, trat zu jener Zeit in eine höchst dynamische Phase ein, die von vielen Faktoren beeinflusst wurde.
Es war das Zeitalter der Biopolitik, in dem immer effizienter agierende und sich auf die neuen positivistischen Wissenschaften berufende nationale Staatsapparate die Zusammensetzung und Eigenschaften ihrer Bevölkerungen zu bestimmen, zu kontrollieren und zu manipulieren suchten: Das geschah etwa durch die Einführung von Pässen, das Führen von Statistiken, soziologische, biologische, medizinische Studien und Maßnahmen wie etwa medizinische Grenzkontrollen.3 Besonders angesichts von Migration stellte sich die Frage, wer Teil der Bevölkerung werden durfte und wer nicht – und wie dies reguliert und überwacht werden könnte.
Doch von den antipolnischen Maßnahmen waren auch immer wieder preußische und damit deutsche Staatsbürger*innen betroffen. Beispielsweise ein großer Teil der sogenannten Ruhrpolen, die vom landwirtschaftlich geprägten Osten in den Westen gezogen waren, um dort als Bergleute zu arbeiten, oder auch die polnischsprachige Bevölkerung in Posen, die dort sogar die Mehrheit stellte. Parallel dazu versuchte man stets, die polnischsprachigen Deutschen durch Germanisierungsmaßnahmen von ihrem »minderwertigen, stets zu Exzessen geneigten« Wesen zu befreien und der »Überlegenheit des Deutschtums« näherzubringen, wie es eine preußische Denkschrift von 1898 formulierte.4 Darauf reagierten die Gemaßregelten jedoch oft mit kollektivem oder individuellem Protest und Widerstand.
Besonders mit Blick auf Posen schrieb der Vorstand des Alldeutschen Verbands, Ernst Hasse, 1906: »Die harmlosen Gemüter, die uns noch immer den Rat zu geben wagen, um des lieben Friedens willen ›unsere Mitbürger polnischer Zunge‹ sänftiglich zu behandeln«, seien »mehr als kindlich«, da sie »nicht daran glauben, daß wir uns in einem von den Polen aufgedrängten Kriegszustande befinden.« Deshalb solle man die Polen zwar nicht »ausrotten«, aber »durch eine anders gestaltete Grenze […] dauernd unschädlich« machen.5 Tatsächlich schränkte das Reichsvereinsgesetz von 1908 den Gebrauch der polnischen Sprache in der Öffentlichkeit an Orten ein, an denen die Mehrheit deutschsprachig war – somit praktisch überall im Westen des Reichs.6 Das Verbot, polnisch zu sprechen, betraf stellenweise sogar religiöse Rituale wie Taufen und Beichten, da die deutschen Behörden argwöhnten, diese könnten für »politisch-polnische Agitation« genutzt werden.7
Dennoch gelang es den verschiedenen polnischen Gemeinden im Westen, im Laufe der Jahre eigene Strukturen aufzubauen. Mit der einflussreichen Zeitung Wiarus Polski (Der polnische Kämpe) schufen sie sich ein eigenes Sprachrohr, und allmählich entwickelte sich eine lokal eingebundene Identität. Polnischsprachige Deutsche nahmen zunehmend sogar über ihre eigene Gemeinde hinaus Einfluss auf politische Entwicklungen, etwa als treibende Kraft in den großen Streiks im Ruhrbergbau der Jahre 1905 und 1912. Wie einer der ersten ruhrpolnischen Akademiker in Westfalen, Jan Kaczmarek, berichtet, konnten die ehemaligen Landarbeiter und Bergleute, nachdem sie durch »geistige Ausbildung einen klaren Blick für die sozialen und politischen Verhältnisse erworben hatten, … [sic] im vollsten Sinne des Wortes ›mitreden‹«.8
Der Alldeutsche Verband unter der Leitung von Hasse war allerdings ein Vorreiter jener radikal-nationalen und völkischen Strömung, die bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts versuchte, das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht von 1871 zu verändern. Bei ihren Bemühungen, das »Deutsche« und das »Undeutsche« auch formaljuristisch klar voneinander zu trennen, dienten die polnischsprachigen Deutschen sicherlich als zentrales Feindbild, als Gruppe, deren weitere Vergrößerung und Einflussnahme man verhindern wollte.
Zu dieser Strömung gehörte auch die antisemitische Bewegung, die ihrerseits die rechtliche Emanzipation der jüdischen Deutschen wieder rückgängig machen wollte. Der stärker werdende Antisemitismus verwob sich dabei mit dem entstehenden antislawischen Rassismus. Der Historiker Heinrich von Treitschke hatte schon 1879 in seiner vielzitierten Schrift Unsere Aussichten behauptet, dass der »Instinkt der Massen« tatsächlich eine »schwere Gefahr«, einen »hochbedenklichen Schaden des neuen deutschen Lebens« erkenne und darauf berechtigterweise mit Antisemitismus reagiere. Das könnten Engländer und Franzosen, die mit einer »gewissen Geringschätzung« über das »Vorurtheil der Deutschen gegen die Juden« redeten, nicht nachvollziehen, da sie in »glücklicheren Verhältnissen« lebten. Denn sie hätten in ihren Ländern nur mit den sephardischen Juden aus Spanien, nicht aber mit den Juden zu tun, die beständig über »unsere Ostgrenze aus der unerschöpflichen polnischen Wiege« kämen. Treitschke beschrieb Letztere als »Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge«, deren Nachkommen
dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung wächst zusehends, und immer ernster wird die Frage, wie wir dieses fremde Volksthum mit dem unseren verschmelzen können.
Denn das »osteuropäische Judentum« stehe dem »germanischen Wesen ungleich fremder gegenüber«.9 Damit meinte Treitschke jedoch auch die deutschen Juden, die bereits Immanuel Kant nicht nur als Osteuropäer, sondern auch als zwar zur »weißen Rasse« gehörig, aber doch minderwertige »Orientale« kategorisiert hatte.10
Ein weiterer heute noch hoch angesehener Pionier seines Fachs, der Soziologe Max Weber, spielte eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der These von der Gefahr aus dem Osten. Seine Studie Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland erschien 1892 und löste ein großes politisches, wissenschaftliches und publizistisches Echo aus. Darin vertrat Weber die These, dass deutsche von polnischen Arbeiter*innen kontinuierlich aus den östlichen Provinzen des Kaiserreichs verdrängt würden, was er nicht nur als ökonomische, sondern auch als essentielle kulturelle Gefahr wertete. Die polnischen Arbeiter*innen seien wegen ihres minderen Wesens bereit, unter schwierigeren Umständen für weniger Lohn zu arbeiten. Der »Zuzug vom Osten« habe damit nicht nur Nachteile für den Arbeitsmarkt, sondern sei vielmehr eine »Existenzfrage« des »Deutschtums«, da die deutsche Kultur im Osten zurückgedrängt und die deutsche Kolonisation dort zunichte gemacht würden. Bei der Diskussion seiner Thesen kam auch der Begriff der »Überfremdung« auf, der noch eine lange Geschichte in der Debatte um Migration in Deutschland haben sollte.
Dementsprechend richteten sich die Bestrebungen national-radikaler, völkischer und antisemitischer Kreise primär gegen die osteuropäischen, insbesondere die jüdischen Migrant*innen, deren Naturalisierung, den formaljuristischen Endpunkt des Einwanderungsprozesses, sie verhindern wollten. Im deutschen Kaiserreich handhabten die einzelnen Bundesstaaten die Einbürgerung allerdings noch sehr unterschiedlich. Hasse forderte als nationalliberaler Abgeordneter in einer Reichstagsrede im März 1895, die »Rasse- und Sprachfremden […] slawischer und semitischer Abstammung« sollten »grundsätzlich überhaupt nicht oder nur so wenig als möglich naturalisiert« werden.11 Insgesamt sollten keine Ausländer »fremden Stammes«, zu denen er auch