hänge das Schlüsselbein, konnte man in der »Stuttgarter Zeitung« lesen, er sei halt »nun mal kein Löwe«.
Dann kam der März 1998, der zunächst mit einem 2:1 gegen Wolfsburg erfolgreich begann. Mayer-Vorfelder versicherte gegenüber den Vertretern der Presse, dass man noch mit keinem anderen Trainer verhandelt habe. Es folgte ein 0:0 beim HSV und schließlich ein erneutes 0:3 im Heimspiel gegen den FC Bayern. Nichts habe gestimmt, weder die Einstellung noch die Taktik des Teams, moserte »MV« nun: »Jetzt ist der Trainer gefordert.« Natürlich sei er maßlos enttäuscht gewesen nach dem Spiel, kommentierte Löw. Aber: »Noch können wir aus eigener Kraft einen UEFA-Cup-Platz schaffen.« Außerdem hatte man im Europapokal der Pokalsieger soeben gegen Slavia Prag den Einzug ins Halbfinale geschafft, und dort wartete mit Lokomotive Moskau ein durchaus schlagbarer Gegner. Wenn man beides schaffe, Platz fünf in der Bundesliga und die Teilnahme am Europacup-Endspiel, dann sei »die ganze Saison doch zufriedenstellend« verlaufen, lautete Löws Beschwichtigungsformel. Vorsichtshalber sagte er jedoch erstmal einen lange geplanten Trainerlehrgang in der Schweiz ab. Es war ihm in dieser Situation zu gefährlich, Stuttgart zu verlassen.
Der größte Teil der Traineraufgabe, sagte er in diesen Tagen in einem Interview mit der »FAZ«, sei die psychologische Komponente. Aber was folgte aus dieser Erkenntnis in der Praxis? Wie sollte er die Mannschaft in den Griff bekommen? Verteidiger Thomas Schneider sollte Jahre später in einem Interview von »ein paar Idioten« berichten, die sich damals beim Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder »ausgeweint« hätten. Das konnte für die Autorität des Trainers nicht förderlich sein. Wenig dienlich war auch, dass er in den Zeitungen permanent wegen seines angeblich zu weichen und zu inkonsequenten Führungsstils angeprangert wurde.
Warum etwa hatte er Murat Yakin nicht bestraft, der vor dem Spiel gegen die Bayern noch um Mitternacht in einem Lokal gesehen worden war? Yakin habe nur Nudeln gegessen und Mineralwasser getrunken, hatte Löw hernach die Aufstellung des türkischstämmigen Schweizers gerechtfertigt. Warum suspendierte er nun andererseits die Spieler Haber und Poschner, die unter der Woche bis halb drei morgens in Stuttgarter Bars gesehen wurden, für das nächste Spiel? Warum ließ er zu, dass die Spieler Bobic und Verlaat mit öffentlichen Äußerungen an seiner Autorität kratzten? Bobic hatte kritisiert, dass die Mannschaft »viel zu einfach auszurechnen« sei, und Verlaat wurde mit der Aussage zitiert, dass die Probleme beim VfB ausschließlich »sportlicher Natur« und damit also »Sache des Trainers« seien.
Als das nächste Spiel in Berlin trotz neuformierter Mannschaft mit 0:3 kläglich in die Hose gegangen war, würdigte »MV« seinen Trainer nach dem Abpfiff keines Blickes und meckerte vor den Mikrofonen: »Wir sind gegen eine durchschnittliche Mannschaft total eingebrochen.« Am Tag darauf fiel die Presse über den glücklosen Trainer her, diesen Sonderling, der in Interviews von so seltsamen Dingen wie Respekt, Anstand und Moral redete oder von »ehrlicher Arbeit«, die seine Profis in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit abzuliefern hätten. Der Trainer, so hieß es nun wenig überraschend, habe in seiner Gutmütigkeit viel zu lange viel zu viel toleriert. Zwar sei er ein anständiger Kerl, richtig lieb sogar, aber eben wahrscheinlich nicht hart genug für das Geschäft, sondern zu grün, zu weich, kurz: zu nett. Die »Stuttgarter Zeitung« druckte das gnadenlose Urteil: »Der Trainer ist gescheitert. An sich und seinem Charakter. An den maßlosen Stars. Und an den absolutistischen Machtstrukturen im Verein. Übrig bleibt: ein trauriger Held mit liebenswerten Schwächen, der sich im Sommer wohl einen neuen Arbeitsplatz suchen muss.«
Während die Vorwürfe auf Joachim Löw herabprasselten, brodelte zugleich die Gerüchteküche. Kaum ein bekannter Name fehlte auf der Liste der in den folgenden Tagen und Wochen gehandelten Nachfolgekandidaten: Arie Haan, Klaus Toppmöller, Jupp Heynckes, Felix Magath, Ottmar Hitzfeld und als Wunschkandidat Mayer-Vorfelders vor allem Winfried Schäfer, der kürzlich beim KSC entlassen worden war. Als durchsickerte, dass sich Mayer-Vorfelder mit Hitzfeld und Schäfer getroffen hatte, um die Möglichkeit einer zukünftigen Zusammenarbeit abzuchecken, schienen die Würfel gefallen. Den öffentlichen Beteuerungen »MVs« – »Wir ziehen die Saison mit Löw durch« – schenkte kaum ein Beobachter mehr Glauben. Auch der Noch-VfB-Trainer ahnte natürlich, was hinter den Kulissen lief. »Ich habe keine Angst vor der Zukunft«, bemerkte er. »Ich bin seit 17 Jahren im Geschäft. Ich weiß, dass es immer irgendwie weitergeht.« Noch ging es beim VfB unter seiner Regie weiter. Am 11. April gewann ein selbstbewusst auftretendes Team aus Stuttgart in Gelsenkirchen mit 4:3. Fünf Tage später folgte ein 1:0 in Moskau, das den Einzug ins Europacup-Finale perfekt machte. Den 2:1-Heimsieg im Hinspiel zwei Wochen zuvor hatten allerdings nur 15.000 Zuschauer sehen wollen.
Ende mit Finale
Trotz aller Querelen war im Saisonendspurt Fakt: Man hatte in der Bundesliga wieder Erfolg und man stand im Finale eines Europacups! Löw hatte den kompletten Kader nach Moskau mitgenommen, um die Gelegenheit des langen Trips nach Russland für die Stärkung des Zusammenhörigkeitsgefühl zu nutzen. Er vertraute nach wie vor auf die Wirksamkeit seines kooperativen Führungsstils, er wollte auch in der Krise seine Überzeugungen nicht verraten. Mayer-Vorfelder freilich verfolgte parallel ebenso konsequent sein Vorhaben, den jungen Trainer von seiner Verantwortung zu entbinden. »Ich mag den Jogi, seine Ehrlichkeit und Offenheit«, behauptete der Präsident und fügte zweideutig hinzu: »Er ist halt noch sehr jung. Aber er hat bei uns so viele Erfahrungen gesammelt, dass er bestimmt ein ausgezeichneter Trainer wird.« Jetzt, so sollte das wohl heißen, war er es noch nicht.
Dummerweise gewann der angeblich noch nicht ausgezeichnete Trainer dann auch noch das nächste Match (2:0 gegen den VfL Bochum am 19. April). Innerhalb von einer Woche hatte er damit drei wichtige Spiele gewonnen. Entertainer Harald Schmidt witztelte, dass der Jogi jetzt vielleicht als Europacupsieger entlassen werde. »MV« hatte ein stetig anwachsendes Problem: Wie sollte er die geplante Entlassung Löws begründen, wenn die Mannschaft weiterhin siegen sollte?
Der Wind drehte sich immer mehr gegen Mayer-Vorfelder. In seiner Ausgabe vom 4. Mai kürte der »Kicker« den Stuttgarter Trainer zum Mann des Monats April. Die Begründung: Er habe den VfB in der Bundesliga im Rennen um den UEFA-Cup-Platz gehalten, zudem habe er sich für das Finale im Europapokal der Pokalsieger qualifiziert. Wie zur Bestätigung gewann der VfB dann sein letztes Saisonspiel gegen Werder Bremen mit 1:0 und sicherte sich damit die Teilnahme am UEFA-Cup. Am Rande des Spiels gab es jede Menge Protestplakate von VfB-Fans, die für ein Bleiben von Löw plädierten (»Alle gegen Schäfer«. »Löw ist o. k., MV zum KSC«). Verantwortung zu tragen sei schwerer, als Plakate zu schreiben, kommentierte ein sichtlich genervter »MV«.
Löw, dessen 1997 geschlossener Zwei-Jahres-Vertrag ja immer noch für ein Jahr gültig war und der nach wir vor keine offizielle Mitteilung des Vereins erhalten hatte, dass man nicht mehr mit ihm plant, machte gute Miene zum bösen Spiel. Tag für Tag hatte der Trainer in den Zeitungen lesen müssen, dass er nur noch befristet geduldet war. Und er blieb immer noch freundlich und nett. Kein böses Wort über seinen Präsidenten kam ihm über die Lippen. »Ich gehe davon aus, dass ich meinen Vertrag bis 1999 erfülle«, erklärte Löw im »Kicker«. Er wollte Haltung zeigen. Und wenn er dennoch gehen musste, dann wollte er vorher auf jeden Fall den größten Erfolg der Vereinsgeschichte unter Dach und Fach bringen. Ein Abschied im Triumph, als moralischer Sieger von der VfB-Bühne abtreten – das wenigstens sollte es sein.
Vor der Finalnacht am 13. Mai in Stockholm gegen den FC Chelsea machte das Team des VfB einen konzentrierten Eindruck. Die Spieler waren guter Stimmung und zuversichtlich. Der Trainer habe »es super verstanden, störende Einflüsse von der Mannschaft fernzuhalten«, meinte Fredi Bobic. Der VfB erwischte keinen glanzvollen Abend, hielt aber gegen die Stars aus London gut mit. Er begann mutig und hatte einige Torchancen, erst allmählich gewann dann Chelsea die Oberhand. Die Entscheidung fiel in der 71. Minute. Nur 17 Sekunden nach seiner Einwechslung markierte Gianfranco Zola das 1:0. Dabei blieb es. Löws Resümee fiel zwiespältig aus: »Eine Siegchance gab es, wenn wir vor der Pause eine der gut herausgespielten Chancen genutzt hätten. Mit hohen Bällen, wie später, hatten wir gegen diese Chelsea-Deckung keine Chance.«
Nach dem Spiel erschien »MV« nicht einmal mehr in der Kabine. Es war der letzte Auftritt von Joachim Löw als Trainer des VfB. Mitgeteilt hatte ihm die vorzeitige Vertragsauflösung freilich noch immer keiner.