Die »Sport-Bild« resümierte, dass selten zuvor ein Trainer derart böse über Monate hinweg auf Raten demontiert worden sei. »Löws ›Todesurteil‹ war, dass er immer an das Gute im Menschen glaubte«, schrieb die »Bild« über den Trainer, der zeitweise den »schönsten und attraktivsten Fußball in Deutschland« habe spielen lassen und sicherlich als einer der besten Trainer der Vereinsgeschichte bezeichnet werden müsse. »Es ist die alte Geschichte vom Lehrling, der zum Meister wurde«, hieß es in der »Stuttgarter Zeitung« deutlich unfreundlicher. »Die Mannschaft hat den ehemaligen Co-Trainer in ihrer Euphorie mit hochgespült. Und Spielern weh zu tun, denen er seinen Karrieresprung zu verdanken hat, entspricht nicht Löws Naturell.«
Joachim Löw selbst haderte hernach vor allem mit dem ihm chronisch schlecht gesonnenen Präsidenten. »Es ist für jeden Trainer unheimlich wichtig, dass er von den Chefs absolute Rückendeckung bekommt«, meinte er. »Jeder macht mal Fehler, muss in Kauf nehmen, dass er Schrammen davonträgt. Doch man kann Autoritätsverluste zurückholen, wenn man von oberster Stelle unterstützt wird.« Große Wunden aber seien dennoch nicht zurückgeblieben. Trotz aller Irritationen sei es eine schöne Zeit gewesen, in der er viel gelernt habe. Vor allem, dass ein Trainer »eine Machtposition ausfüllen muss«. Nachhaltig verstimmt blieb er über die gegen ihn betriebene Kampagne »netter Herr Löw«. Das sei »von gewissen Teilen der Presse und einigen Leuten im Verein« gezielt gesteuert worden, war er überzeugt, um seine Entlassung beim VfB zu provozieren. »Ich weiß genau, dass ich nicht zu nett war«, stellte er schon beinahe trotzig fest. Eventuell, gab er zu, habe er manche Entwicklung zu spät erkannt. »Da habe ich vielleicht den Fehler gemacht, dass ich mich zu lange schützend vor manchen Spieler gestellt habe, gerade in der Öffentlichkeit.« Er habe die Konflikte innerhalb der Mannschaft als Kinderkram eingestuft, deswegen nicht wirklich ernst genommen und laufen lassen; sicher hätte er da früher eingreifen müssen. Vielleicht, sollte er Jahre später selbstkritisch sinnieren, war der Schritt zum Cheftrainer für ihn ein paar Jahre zu früh gekommen.
Stolz konnte er jedenfalls auf seine Bilanz sein: Innerhalb von zwei Spielzeiten hatte er mit dem VfB den DFB-Pokal gewonnen, war ins europäische Pokalsieger-Endspiel gelangt, und zudem hatte er zweimal die Qualifikation für den UEFA-Pokal erreicht. Sowas sollte ihm erstmal einer nachmachen. Winfried Schäfer, der seinen Job zum 1. Juli 1998 offiziell angetreten hatte, schaffte es nicht. Der als »harter Hund« angekündigte Löw-Nachfolger wurde bereits im Winter wegen Erfolglosigkeit entlassen. Vom »Wir-Gefühl« hatte er gesprochen, das er wiederherstellen wolle; gezeigt hatte er dann aber lediglich Egozentrik, Führungsschwäche und schlechte Ergebnisse. Bereits nach fünf Monaten hatte der Patriarch Mayer-Vorfelder genug und riss das Ruder heftig herum. Mit dem jungen Konzepttrainer Ralf Rangnick verpflichtete er einen Bundesliga-Neuling für die nächste Saison; bis dahin sollte Rainer Adrion als Interimstrainer die vom Abstieg bedrohte Mannschaft aufrichten und zugleich auf das Spielsystem seines designierten Nachfolgers vorbereiten.
»Eine größere Kehrtwende kann man wohl nicht machen«, kommentierte Joachim Löw schmunzelnd. Das ebenso turbulente wie erfolglose Intermezzo mit dem »Traditionalisten« Schäfer hätte man sich sparen können, sollte das heißen, denn wenn jetzt mit Rangnick wieder ein innovativer Ansatz gefragt war, dann hätte man auch gleich den Trainer Löw behalten können. Er selbst jedenfalls hatte durch das unrühmliche Ende beim VfB den Glauben an seine Fähigkeiten nicht verloren. Und es gab auch noch einige andere, die ihm für die Zukunft durchaus einiges zutrauten. Etwa den VfB-Verteidiger Thomas Schneider. »Ich bin mit Jogi gut ausgekommen, er war menschlich einer der besten Trainer, die ich je hatte«, meinte der; sicherlich werde er »noch von sich reden machen«.
EINWURF
Die Fußballprofessoren aus Baden-Württemberg
Mir Ralf Rangnick hatte Gerhard Mayer-Vorfelder einen Trainer verpflichtet, der mit neuen Ideen und Methoden in die Schlagzeilen geraten war. Der im schwäbischen Backnang geborene Fußball-Lehrer hatte dem Nobody SSV 1846 aus Ulm eine frische und moderne Spielweise verpasst und zum Durchmarsch von der Regionalliga in die 1. Liga angesetzt. Rangnicks überraschender Erfolg wurde viel bestaunt, manche Trainer-Kollegen waren jedoch nicht besonders erfreut, als er den Fernsehzuschauern im »Aktuellen Sportstudio« oberlehrerhaft die Vorteile der Viererkette erklärt hatte. Nun, als Chef beim großen VfB, sah sich der nassforsche Fußballintellektuelle am Ziel. Er träumte von einem Fußballunternehmen nach dem Vorbild Ajax Amsterdam, von einem Profiteam, das die Gegner mit Viererkette, ballorientierter Raumdeckung und einstudiertem Tempo-Offensivspiel das Fürchten lehren und alljährlich von nach Plan aufgezüchteten Jungprofis ergänzt werden würde. Rangnick rettete die Stuttgarter vor dem Abstieg und erreichte in der darauffolgenden Saison den UEFA-Pokal. In der folgenden Spielzeit aber kam der Verein sportlich und auch wirtschaftlich ins Schlingern. Der immer wieder wegen seines überbordenden Reformeifers kritisierte Rangnick überlebte zwar den autokratischen Präsidenten Mayer-Vorfelder, der am 30. Oktober 2000 zurücktrat und einen hochverschuldeten Verein hinterließ. Durchsetzen aber konnte er sich letztendlich nicht. Im Februar 2001 musste er Felix Magath Platz machen.
So weit zur Entwicklung beim VfB nach der Ära Löw. Interessanter ist die Vorgeschichte. Denn Ralf Rangnick war in Stuttgart kein Unbekannter. Ab 1990 war er vier Jahre lang A-Jugendtrainer und hatte zusammen mit dem Jugendleiter Helmut Groß den Unterbau des Vereins nach modernsten Kriterien umgekrempelt. Die beiden Trainer sind die Aushängeschilder einer südwestdeutschen Trainer-Connection, die damals ausgezogen war, das Spiel zu revolutionieren. Es war von daher wohl auch kein Zufall, dass die Stuttgarter 1995 mit Rolf Fringer einen in der Schweiz ausgebildeten Trainer verpflichtet hatten, der in Methodik und Ansatz mit diesen jungen deutschen Fußballintellektuellen manche Gemeinsamkeit aufwies. Darüber hinaus kann man den Eindruck gewinnen, dass der vom heutigen Bundestrainer Joachim Löw vertretene Fußballstil dem dieser baden-württembergischen »Fußballprofessoren« in der einen oder anderen Hinsicht ähnelt.
Zentrale Figur und »Mastermind« dieser zunächst auf einige kleine württembergische Vereine beschränkten Fußballrevolution ist der einem größeren Kreis von Fußballinteressierten allenfalls als Rangnicks Scout und Taktikflüsterer in Hoffenheim bekannt gewordene Helmut Groß. Doch Rangnick und junge Trainer wie der Mainzer Jürgen Tuchel halten den passionierten Taktiktüftler für einen der hellsten Köpfe im deutschen Fußball überhaupt. 1981 übernahm Groß im Alter von 34 Jahren das Training der ersten Mannschaft des baden-württembergischen Verbandsligisten SC Geislingen und stieß dort umwälzende Neuerungen an. Der junge Trainer war frustriert vom altväterlichen deutschen Fußballspiel mit seiner tumben Stopper-Philosophie. Ihm war klar geworden: Manndeckung, Libero und deutsche Tugenden wie Kampf- und Willenskraft – das allein konnte die Fußballwahrheit nicht sein. Viererkette, Raumdeckung, Pressing – das waren die Ideen, aus denen Groß etwas Neues entwickeln wollte. Trainer wie Gyula Lorant, Pal Csernai und Ernst Happel waren damals die ersten in der Bundesliga, die sich von der alles dominierenden Manndeckung distanzierten und eine Raumdeckung spielen ließen. »Durch Raumdeckung«, erklärt Groß, »kann man ökonomischer agieren, weil die Spieler Kraft sparen, indem sie nicht unsinnig dem Gegner hinterherlaufen müssen.« Dieser Ansatz war richtig, doch Groß wollte noch weitergehen. Man müsste, so seine Überlegung, die gesparte Kraft sofort ummünzen in ein aggressives Pressing. Agiert man dabei mit kluger Raumaufteilung, so kann man den Gegner schließlich dazu zwingen, Fehlpässe zu produzieren. Ansätze zu dieser Spielweise zeigte damals Ernst Happel mit der niederländischen Nationalmannschaft. Aber auch das ging Groß noch nicht weit genug. Seine Vorstellung war, »dass man den Ball so schnell es geht erobern sollte«. Das war die Grundidee der ballorientierten Raumdeckung. In den Worten von Groß: »Bei gegnerischem Angriff müssen sich die Spieler so verschieben, dass sie – so weit entfernt vom eigenen Tor wie möglich – in Überzahl den ballführenden Gegenspieler angreifen und ihm so den Raum und die Zeit nehmen für eine vernünftige Aktion, um selbst Konter einzuleiten.« Es ging jetzt also nicht mehr nur darum, den Gegner durch Raumverengung zu Fehlern zu zwingen, sondern das Ziel war die möglichst schnelle Rückeroberung des Balles, um mit schnellen Pässen in die geöffneten Räume hinein einen Tempo-Gegenstoß zu starten. Das gut organisierte aggressive Pressing wurde damit konstruktiv als eine Art Vorspiel für die eigene Offensive.