Als sie das Zimmer des Patienten betraten, hielt dieser kurz inne, um zu sehen, wer diesmal zu ihm kam.
»Was ist los, Herr Lüttringhaus?« fragte Adrian.
»Wer sind Sie denn?« fragte der Patient mürrisch. Adrian trug keinen weißen Kittel mehr, da er bereits auf dem Weg nach Hause gewesen war. Und offenbar erkannte Paul Lüttringhaus ihn nicht.
»Ich bin Dr. Winter«, antwortete Adrian ruhig. »Ich habe Sie am Unfallort untersucht und später auch operiert. Ich bin nach der Operation noch einmal bei Ihnen gewesen, als Sie noch im Aufwachraum lagen, aber da waren Sie noch sehr schläfrig. Deshalb erinnern Sie sich sicher nicht mehr daran. Man hat mir gesagt, Sie wollten mit mir sprechen?«
»Ja, aber allein«, antwortete der Patient mit finsterer Miene. Dann machte er eine Kopfbewegung in Lisas Richtung und fragte bewußt unhöflich: »Wer ist sie überhaupt?«
Adrian hätte ihn am liebsten zurechtgewiesen für seine grobe Art, obwohl er wußte, daß Paul Lüttringhaus den Unfallschock noch nicht überwunden hatte und sich deshalb so verhielt. Doch bevor er etwas sagen konnte, hatte Lisa Baumann bereits geantwortet.
»Der Junge, der den Unfall verursacht hat, Pablo heißt er übrigens«, begann sie, »ist mein…«
Sie kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden. »Sie sind also die Mutter von diesem Bengel!« fiel Paul Lüttringhaus ihr ins Wort. »Und wahrscheinlich sind Sie nicht besser als er! Fährt rücksichtslos bei Rot über die Ampel und verursacht einen schweren Verkehrsunfall! Er kann nur froh sein, daß er jetzt nicht hier ist, dem würde ich vielleicht was erzählen!«
»Aber…«, versuchte Lisa einzuwenden, doch weiter kam sie nicht.
»Wollen Sie ihn verteidigen?« rief Paul Lüttringhaus mit wütend funkelnden Augen. »Wollen Sie etwa verteidigen, was er getan hat? Rücksichtslose Kinder werden später rücksichtslose Erwachsene, das sollten Sie eigentlich wissen. Und wenn Sie ihm kein gutes Vorbild sind, dann können Sie auch nichts Besseres erwarten.«
»Herr Lüttringhaus«, sagte Adrian energisch, »nun halten Sie doch endlich mal die Luft an!«
Das tat der Patient umgehend, was Adrian höchst erstaunlich fand. Mit einem so schnellen Erfolg hatte er nicht gerechnet. Im nächsten Augenblick freilich entdeckte er, daß er sich geirrt hatte. Paul Lüttringhaus hatte sich keineswegs durch seine Worte einschüchtern lassen. Es war vielmehr so, daß Lisa Baumann ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer marschiert war. Und das hatte den temperamentvollen Patienten endlich zum Schweigen gebracht.
»Na, so was«, brummte er. »Wieso rennt sie denn einfach raus? Kann wohl die Wahrheit nicht vertragen!«
Adrian beschloß, daß er nun genug Rücksicht auf Verletzung und Schock des Patienten genommen hatte. »Was wissen Sie denn von der Wahrheit?« schnauzte er den völlig überraschten Mann an. »Pablo ist überhaupt nicht ihr Sohn! Er ist ein kleiner Argentinier, der bei ihr zu Gast ist. Er hat sich heute morgen heimlich das Fahrrad ihres Sohnes ›geliehen‹, und ist damit abgehauen. Sie hatte ihm übrigens strikt verboten, allein mit dem Fahrrad zu fahren und hat Todesängste ausgestanden, als sie festgestellt hatte, daß der Junge verschwunden ist. Eigentlich ist sie nur gekommen, um sich bei Ihnen in Pablos Namen zu entschuldigen. Obwohl sie natürlich weiß, daß dadurch nichts ungeschehen gemacht wird.« Nun war es Dr. Adrian Winter, der den anderen wütend anfunkelte, und unter seinem Blick wurde Paul Lüttringhaus sichtlich verlegen.
»Das wußte ich ja nicht«, begann er, aber Adrian schnitt ihm sofort das Wort ab.
»Das wußten Sie nicht, weil Sie sie gar nicht haben zu Wort kommen lassen, Herr Lüttringhaus! Sie haben sie abgekanzelt wie eine dumme Schülerin, ohne sich anzuhören, was sie Ihnen zu sagen hatte. Das war außerordentlich unhöflich von Ihnen. Und da wir schon einmal beim Kritisieren sind: Hören Sie endlich auf, die ganze Station zu terrorisieren! Jeder macht hier seine Arbeit, so gut er kann. Und es gibt keinen Grund, die Schwestern und Ärzte auf der Station zu behandeln, als wären sie schuldig an dem Unfall. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Sie haben einen schweren Schock erlitten und sind außerdem schwer verletzt worden. Ich verstehe, daß das für Sie ein harter Schlag ist – aber niemand von den Leuten, die sich hier um Sie kümmern, trägt daran irgendeine Schuld. Also besinnen Sie sich bitte auf Ihre besseren Seiten und benehmen Sie sich ab sofort wie ein normaler Mensch!«
Für den in der Regel sehr gelassenen Adrian Winter war das eine ungewöhnlich deutliche Ansprache. Einen Moment herrschte Stille im Zimmer, dann fuhr der Arzt mit völlig ruhiger Stimme fort: »So, was also wollten Sie mich fragen?«
Doch auf diese Frage bekam er keine Antwort. »Mannomann«, ließ sich Paul Lüttringhaus vernehmen. »Das war vielleicht ’ne Strafpredigt, Doktor. Besser hätte ich’s auch nicht gekonnt. Aber ich muß zugeben, daß Sie recht haben. Ein bißchen wenigstens.«
»Da bin ich aber froh«, bemerkte Adrian trocken. Insgeheim fand er Paul Lüttringhaus sympathisch, auch wenn er eindeutig übertrieben hatte mit seiner Schreierei. Aber, dachte er, wer weiß, wie ich reagieren würde, wenn ich Angst hätte, vielleicht nie wieder laufen zu können? Und er ist ja noch ziemlich jung, kaum dreißig. Außerdem sieht er gut aus mit seinen dunklen Haaren und den
dunklen Augen. Bis heute morgen hat ihm wahrscheinlich die ganze Welt offengestanden. Und jetzt muß er sich fragen, wie es mit ihm weitergeht. Das ist schon hart.
»Und jetzt?« fragte Paul Lüttringhaus. »Wahrscheinlich wär’ ja eine Entschuldigung angebracht, obwohl ich immer noch stinkwütend auf den Jungen bin. Aber die Frau… Wie heißt sie überhaupt?«
»Frau Baumann.«
»Frau Baumann kann ja wohl wirklich nichts dafür.«
»Nein, das kann sie sicher nicht«, bestätigte Adrian. »Sie werden sich etwas einfallen lassen müssen, Herr Lüttringhaus. Freiwillig kommt Frau Baumann bestimmt nicht wieder, um mit Ihnen zu reden.«
»Da könnten Sie recht haben, Herr Doktor«, murmelte der Patient. Auf einmal hatte er überhaupt kein Bedürfnis mehr, über sein Bein zu sprechen und darüber, wie seine Chancen auf vollständige Genesung waren. Zwar versuchte er, mit dem Doktor darüber ein Gespräch zu führen, aber irgendwie kamen ihm immer zwei zutiefst erschrocken blickende braune Augen in einem sehr zarten Gesicht in den Sinn, die verhinderten, daß er sich richtig konzentrieren konnte.
*
Lisa war sehr blaß und in sich gekehrt, als sie Alexander abholte, der bei Pablo geblieben war. Das Gespräch mit Stefanie Wagner war zwar völlig ruhig und friedlich verlaufen, aber der Schock über die Vorwürfe, die Paul Lüttringhaus ihr gemacht hatte, saß tief.
Die beiden Jungen sahen sie unsicher an, weil sie sich ihren Stimmungswechsel nicht erklären konnten. Sie war doch zuvor so freundlich und liebevoll gewesen. Aber jetzt wirkte sie fast unnahbar. Besonders Pablo bekam es erneut mit der Angst zu tun. Hatte Lisa vielleicht ihre Meinung geändert und wollte ihn jetzt doch nach Hause schicken? Er sah Alexander hilflos an, aber diesmal konnte der ihm auch nicht helfen. Er verstand ja selbst nicht, was auf einmal mit seiner Mutter los war.
Wie hätte Lisa den Jungen auch erklären sollen, was sie bei Paul Lüttringhaus erlebt hatte? Der Mann hatte sie zutiefst getroffen mit seinen Worten, aber sie konnte ihn trotzdem gut verstehen. Zwar war er außerordentlich unhöflich gewesen, denn er hatte ja nicht einmal hören wollen, was sie zu sagen gehabt hätte. Aber war das angesichts seiner Situation nicht allzu verständlich?
Und nach dem, was sie über seine Verletzungen wußte, gab es Gründe genug für ihn, verzweifelt zu sein. Ein Sportlehrer, der nicht wußte, ob er jemals wieder würde laufen können! Es schauderte sie, als sie daran dachte. Und das alles, weil Pablo sich heimlich Alexanders Rad »ausgeliehen« hatte. Nur gut, daß der Junge nicht überschauen konnte, was er angerichtet hatte. Er war gestraft genug, auch ohne lebenslange Schuldgefühle.
Sie würde diesen Paul Lüttringhaus am nächsten Tag noch einmal aufsuchen, beschloß sie. Auch wenn sie nur wenig tun konnte, so empfand sie es doch als ihre Pflicht, ihm zu erklären, wie es zu dem