kommen lassen.«
Sie setzte sich auf den Stuhl neben seinem Bett und betrachtete ihn aufmerksam. Dabei legte sie den Kopf ein wenig schief. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen, das eine schwierige Aufgabe zu lösen hat, und er fand sie unglaublich anziehend. Paul Lüttringhaus, sagte er streng zu sich selbst, du hast ein kaputtes Bein und im Augenblick wirklich andere Sorgen. Du wirst dich doch nicht etwa in Frau Baumann…
»Sie machen aber ein komisches Gesicht!« stellte Lisa fest. »Woran haben Sie denn gerade gedacht?«
»Das muß leider mein Geheimnis bleiben«, murmelte Paul verlegen. »Nun erzählen Sie mir mal von dem kleinen Bengel, auf den ich übrigens immer noch stinkwütend bin.«
Das tat Lisa. Sie berichtete so voller Zuneigung und Zärtlichkeit von Pablo und seinen Versuchen, sich die ihm völlig fremde deutsche Welt anzueignen, daß Paul Lüttringhaus davon ganz seltsam berührt war. Wie schön mußte es sein, dachte er, wenn sie in diesem zärtlichen Ton auch einmal von mir spräche. Er erschrak über diesen Gedanken und fragte sich, was eigentlich mit ihm los war.
Sie sah ihn fragend an, und er wurde verlegen. »Was ist los?« murmelte er. Hoffentlich konnte sie keine Gedanken lesen.
»Das wollte ich Sie eigentlich fragen«, antwortete Lisa. »Haben Sie mir denn überhaupt zugehört?«
»Ich habe jedes Wort gehört«, versicherte er. »Und ich möchte Ihren Pablo gern kennenlernen.« Er bemerkte ihren Blick und fügte hastig hinzu: »Ich werde ihm schon nicht den Kopf abreißen, keine Angst! Ein bißchen schimpfen, das schon. Aber ich glaube, daß ich jetzt besser verstehen kann, was passiert ist. Nur sollte er so etwas trotzdem nie wieder tun.« Plötzlich erhellte ein breites Lächeln sein Gesicht. »Zufällig mache ich auch Verkehrsunterricht. Mir scheint, Pablo wäre der ideale Kandidat für ein paar Unterrichtsstunden – was halten Sie davon?«
Ihr Gesicht wurde traurig, und einen Augenblick lang fürchtete er, etwas Falschen gesagt zu haben.
»Bis Sie wieder gesund sind und Unterricht geben können«, sagte sie leise, »ist Pablo längst wieder in Argentinien. Ich darf gar nicht daran denken.«
»Sie mögen ihn sehr gern, nicht wahr?« fragte er.
Sie nickte. »Wie gern, das habe ich wohl jetzt erst richtig begriffen. Ich habe solche Angst um ihn gehabt gestern, das können Sie sich gar nicht vorstellen.« Sie dachte nach und fügte hinzu: »Natürlich hatte ich auch meinetwegen Angst – ich will mich nicht besser machen als ich bin. Sie wissen schon: verletzte Aufsichtspflicht und so etwas. Ich habe mir große Vorwürfe gemacht, daß ich die Jungen überhaupt allein auf den Spielplatz gelassen habe. Aber sie sind acht und neun Jahre alt, da haben Kinder längst einen starken Drang, sich unabhängig von den Eltern zu bewegen.«
»Kann er denn nicht ein bißchen länger hierbleiben?« fragte Paul und vergaß völlig, daß die Rede von »dem Bengel« war, über den er sich gestern noch ungeheuer aufgeregt hatte.
»Er muß ja wieder in die Schule«, antwortete sie. »Ich weiß noch nicht einmal, wie lange er hier in der Klinik bleiben muß. Er hat eine ziemlich schwere Gehirnerschütterung. Da bleibt von seinen Ferien sowieso nicht mehr allzuviel übrig.«
»Dann laden Sie ihn einfach noch einmal ein«, schlug Paul vor.
Sie sah ihn erstaunt an. »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen«, meinte sie nachdenklich. »Aber das könnte ich vielleicht machen.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, als sie fortfuhr: »Sie sind ein merkwürdiger Mensch, Herr Lüttringhaus. Gestern haben Sie auf Pablo geschimpft wie ein Rohrspatz, und heute machen Sie sich solche Gedanken seinetwegen.«
Er wurde verlegen. »Vergessen Sie gestern«, bat er. »Meinen Sie, das wäre möglich?«
»Mal sehen«, sagte sie ernsthaft, aber ihre braunen Augen lächelten ihn an.
Auf einmal war Paul Lüttringhaus der glücklichste Mensch der Welt.
Er hatte ein kaputtes Bein und wußte nicht, was die Zukunft bringen würde – aber er war glücklich. Und er wunderte sich noch nicht einmal darüber, denn er wußte genau, daß dieses Gefühl mit zwei sanften braunen Augen zusammenhing, die ihn anlächelten.
*
»Das soll doch jetzt aber wirklich ein Witz sein, hoffe ich?« fragte Dr. Julia Martensen und sah ihren Kollegen Adrian Winter streng an. »Du hast Urlaub! Schon vergessen?«
»Keinesfalls«, antwortete Adrian würdevoll. »Ich sehe nur mal nach meinen Patienten, und dann bin ich auch schon wieder weg.«
»Nach deinen Patienten?« fragte Julia spitz. »Du hast im Augenblick keine Patienten, Adrian Winter, weil du nämlich gar nicht hier bist.«
»Du weißt genau, was ich meine, Julia«, sagte Adrian charmant, gab ihr einen Kuß auf die Wange und verließ die Notaufnahme. Sie sah ihm kopfschüttelnd nach. Er war ein besessener Arzt, das wußte sie, aber in diesem Fall mußte vielleicht doch noch etwas anderes als reines medizinisches Engagement hinter seinem Interesse an den Patienten stecken. Aber was?
Adrian war unterdessen vor dem Zimmer angelangt, in dem Stefanie Wagner lag. Er klopfte an und trat im gleichen Augenblick ein. »Guten Tag«, sagte er freundlich. »Ich wollte doch noch einmal nach Ihnen sehen.«
Sie hatte ganz still dagelegen und aus dem Fenster gesehen. Nun wandte sie den Kopf und sah ihn an. »Das ist aber nett«, erwiderte sie.
Er schluckte. Sie war wirklich eine schöne Frau mit ihren blonden Locken und diesen unglaublichen Augen. Was für ein Glück, daß er sie allein angetroffen hatte. Dies würde ja vermutlich das letzte Mal sein, daß er sie sah. Oder er kam morgen noch einmal wieder – Julia mußte das ja nicht unbedingt mitkriegen. Sonst machte sie nur wieder eine spitze Bemerkung.
»Geht’s Ihnen besser?« fragte er und hörte selbst, daß seine Stimme ein wenig heiser klang.
»Ja, viel besser. Vor allem, seit ich weiß, daß der Junge mit einer Gehirnerschütterung davongekommen ist. Ich habe ja gedacht…« Sie brach ab und fuhr dann fort: »Ich versuche, nicht mehr daran zu denken.«
»Ja, das ist wahrscheinlich auch besser. Wann werden Sie denn entlassen?«
»Morgen, denke ich.«
»Morgen schon!«
Sie sah ihn erstaunt an. Das hatte fast ein wenig bestürzt geklungen. Offenbar hatte er das auch bemerkt, denn nun wirkte er verlegen.
Schnell sprach sie weiter, um die Situation zu überspielen. »Wissen Sie, daß ich mich hier in der Klinik erstaunlich wohl fühle? Zuerst wollte ich ja gar nicht hierbleiben, und dann habe ich festgestellt, wie gut mir diese Ruhe tut. Ich muß nichts machen, kann soviel schlafen, wie ich will, und keiner hetzt mich. Außerdem sind alle furchtbar nett zu mir.«
»Ist Ihr Leben denn sonst so anstrengend?«
Sie nickte. »Ich bin Assistentin des Direktors im King’s Palace. Er ist ein toller Mann, aber außerordentlich anstrengend. Bisher hat es noch niemand lange bei ihm ausgehalten.«
»Aber Sie haben sich natürlich vorgenommen, daß Sie ihn kleinkriegen, oder?« fragte Adrian.
Sie lachte. »Genau. Woher wissen Sie das?«
»Intuition«, sagte er und lachte ebenfalls. »Ich bin sicher, daß Sie es schaffen. Sie schaffen wahrscheinlich alles, was Sie sich vornehmen.«
»So einen Eindruck haben Sie von mir? Wie schmeichelhaft!«
Stefanie wunderte sich, wie leicht es ihr fiel, mit diesem jungen Arzt zu reden. Er machte einen ruhigen und souveränen Eindruck – so wie Oliver. Aber ganz anders als dieser war er dabei charmant und ein wenig jungenhaft. Und kein bißchen beschützend oder bevormundend. Obwohl er als Arzt vielleicht sogar ein Recht dazu hatte, einer Patientin gegenüber. Sie fand ihn äußerst anziehend, gestand sie sich ein. Und seine braunen Augen hatten einen Ausdruck, der sie verwirrte, weil sie ihn nicht zu deuten wußte.
Wieder klopfte es, und diesmal