Notruf. Gleich darauf wählte er eine zweite Nummer. Seit der Junge auf die Straße geschleudert worden war, waren noch keine drei Minuten vergangen.
»Moni?« sagte er knapp. »Ein Unfall, kleiner Junge, vielleicht zehn Jahre alt. Ist mit dem Fahrrad böse gestürzt, ohne Helm. Gehirnerschütterung, Prellungen. Trifft in etwa zwanzig Minuten bei euch ein. Außerdem zwei weitere Personen, eine hat einen schweren Schock, über die Verletzungen der anderen kann ich noch nichts sagen.«
Er beendete das Gespräch, ohne eine Erwiderung abzuwarten. In dem Auto, das er nun erreichte, saß ein noch junger Mann und stöhnte laut vor Schmerzen. Gleichzeitig fluchte und schimpfte er wie ein Rohrspatz. Adrian kannte diese Reaktion, es war der Versuch des Mannes, mit den Schmerzen und dem Schock auf seine Weise fertig zu werden.
Auch hier drängten sich bereits die Schaulustigen und kommentierten das Geschehen. Er biß sich heftig auf die Lippen, um nicht wütend dazwischen zu fahren. Er würde sich nie an diese Form der »Anteilnahme« gewöhnen.
»Wieso sind denn die Sanitäter noch nicht da? Das dauert auch immer länger.«
»Ja, und in der Zwischenzeit kann der Mann hier verbluten, weil er den Jungen retten wollte. Ein Skandal ist das!«
Alle starrten in das Auto, keiner hatte bisher einen Versuch gemacht, dem Verletzten zu helfen. Adrian bahnte sich energisch seinen Weg – dieses Mal, ohne ein Wort zu sagen. Es schien ihm, als ließen ihn die Leute eher widerwillig durch. Niemand wollte seinen Platz, von dem aus er gut sehen konnte, freiwillig räumen. Am liebsten hätte er vor Wut laut gebrüllt.
Ein Blick genügte ihm, um festzustellen, daß das rechte Bein des Verletzten übel aussah: offenbar war es mehrfach gebrochen, und die Kniescheibe war bei dem Aufprall schwer verletzt worden. Das Vorderteil des Wagens war völlig eingedrückt, aber es gelang Adrian mit einiger Mühe, die Tür auf der Fahrerseite zu öffnen.
»Fassen Sie mich bloß nicht an!« schrie der Mann.
»Ich bin Arzt«, erwiderte Adrian ruhig. »Wenn ich Sie nicht anfasse, kann ich Ihnen auch nicht helfen.«
»Arzt?« Die Augen des Mannes blickten mißtrauisch. »Wo kommen Sie denn so schnell her?« Er stöhnte erneut vor Schmerzen und konnte nicht weitersprechen.
»Ich habe den Unfall zufällig mit angesehen«, antwortete Adrian ruhig und beugte sich über ihn. Unwillkürlich biß er sich auf die Lippen, der Mann mußte entsetzliche Schmerzen haben. Er konnte hier nicht allzuviel für ihn tun. Das Bein mußte operiert werden, und man konnte nur hoffen, daß er später wieder würde gehen können.
Adrian verstellte den Sitz, so daß der Mann fast lag und das verletzte Bein etwas mehr Platz hatte und nicht länger eingeklemmt war. Der Mann wehrte sich nicht mehr, als der Arzt ihn untersuchte, seine letzten Kräfte hatten ihn verlassen. Nach der Untersuchung gab Adrian ihm eine Spritze, um seine Schmerzen zu lindern. Die Kommentare der Umstehenden hörte er jetzt nicht mehr.
Er war gerade fertig, als der erste Rettungswagen eintraf. Dr. Winter winkte die Sanitäter zu sich und begrüßte sie mit einem Kopfnicken. Leise gab er ihnen die nötigen Informationen. »Die Kurfürsten-Klinik ist vorgewarnt«, sagte er. »Fahrt sofort los, den Mann hat’s am schlimmsten erwischt! Ich komme nach, sobald ich kann.«
Daraufhin ließ er sie allein und lief zurück zu dem Jungen, neben dem noch immer die Frau kniete, die er darum gebeten hatte, bei ihm zu bleiben. Nach wie vor standen viele Leute herum, gafften und regten sich über den Unfall auf, ohne auch nur das geringste zu tun. Einige Autofahrer, die es eilig hatten und weiterfahren wollten, hatten bereits angefangen zu streiten – das Übliche, dachte der engagierte junge Arzt resigniert. Aber in diesem Augenblick kam zum Glück die Polizei, sie würde die Kreuzung in kurzer Zeit geräumt haben.
»Er hat sich die ganze Zeit nicht bewegt«, sagte die Frau, die die Hand des Jungen hielt, leise. »Er wird doch nicht sterben?« Ihre Stimme klang ängstlich.
Beruhigend schüttelte Adrian den Kopf. »Nein, er hat eine Gehirnerschütterung, sicher wacht er bald auf. Ich würde sagen, er hat Glück im Unglück gehabt.«
Adrian richtete sich ein wenig auf und stellte fest, daß die Fahrerin des Autos, das gerade noch rechtzeitig zum Stehen gekommen war, noch immer regungslos hinter dem Steuer saß. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie war mindestens so blaß wie das Kind.
In diesem Augenblick bahnten sich die Sanitäter des zweiten Rettungswagens energisch ihren Weg durch die Menge, und Dr. Winter atmete erleichtert auf.
Sie begrüßten einander mit knappem Nicken, er gab auch ihnen die nötigen Informationen und sagte dann: »Gebt dem Jungen eine Infusion zur Stabilisierung des Kreislaufs und bringt ihn in die Kurfürsten-Klinik, die wissen bereits Bescheid. Er hat eine Gehirnerschütterung, einige Prellungen, aber soweit ich sehe, keine inneren Verletzungen. Aber wartet noch einen Augenblick, ihr müßt noch jemanden mitnehmen.« Er machte eine Kopfbewegung zu dem Auto hin, vor dem der Junge lag.
Die Sanitäter folgten seinem Blick und verstanden, was er meinte. »Okay, Dr. Winter«, sagte einer von ihnen, ein älterer Mann, den Adrian schon lange kannte. »Wir bringen nur schnell den Kleinen schon mal in den Wagen.«
Sie betteten den Jungen vorsichtig auf die Trage und schnallten ihn fest. Gleich darauf liefen sie im Eiltempo mit ihm zu dem wartenden Rettungswagen.
Adrian richtete sich auf und ging zur Fahrerseite des Autos, in dem die Frau noch immer regungslos saß. Die Schaulustigen zerstreuten sich allmählich, denn die Polizeibeamten hatten sich unverzüglich an die Arbeit gemacht und energisch durchgegriffen. Die Namen von Zeugen wurden aufgenommen, alle anderen gebeten, die Straße freizumachen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Verkehr wieder floß, als sei nichts geschehen.
Adrian öffnete die Tür des Wagens, aber die junge Frau hinter dem Steuer rührte sich noch immer nicht. Sie hatte lange blonde Haare, die ihr im Augenblick so weit ins Gesicht gefallen waren, daß er kaum ihr Profil sehen konnte. Er beugte sich hinunter und sagte mit sehr sanfter Stimme, um sie nicht zu erschrecken: »Hallo, ich bin Dr. Adrian Winter. Bitte steigen Sie jetzt aus dem Wagen.«
Sie schien ihn nicht gehört zu haben, denn sie reagierte überhaupt nicht. Vorsichtig streckte er eine Hand aus und legte sie an ihre Schläfe. Sie zuckte ein wenig zusammen, sonst jedoch bewegte sie sich auch jetzt nicht. Ihre Haut fühlte sich kühl und feucht an, es war offensichtlich, daß sie einen Schock erlitten hatte. »Bitte, steigen Sie jetzt aus«, sagte er behutsam.
Jetzt endlich wandte sie den Kopf und sah ihn an. Sie hatte große, veilchenfarbene Augen, und unwillkürlich schluckte er. Es kam ihm so vor, als habe er noch nie so schöne Augen gesehen. Sie verliehen ihrem Gesicht einen eigenartigen Reiz, dem man sich nur schwer entziehen konnte.
»Was haben Sie gesagt?« Ihre Stimme war leise und kaum verständlich.
»Steigen Sie bitte aus«, wiederholte er ruhig. »Sie müssen in ein Krankenhaus und dort behandelt werden.«
Sie schüttelte langsam den Kopf und wandte sich von ihm ab, um erneut nach vorn zu starren. »Mir fehlt nichts«, erklärte sie mechanisch. »Mit mir ist alles in Ordnung. Ich bin nicht verletzt.« Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Aber der Junge…« Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad jetzt so fest, daß ihre Knöchel von der Anstrengung weiß wurden.
»Ich habe einen Jungen angefahren«, sagte sie, noch immer mit dieser merkwürdig tonlosen Stimme. »Er hat sich nicht mehr gerührt. Ich… ich glaube, er ist tot.« Sie zitterte stärker und wandte sich wieder zu Adrian um. In ihren schönen Augen stand das blanke Entsetzen. »Ich habe ihn umgebracht.«
Er griff sanft, aber zugleich sehr bestimmt nach ihrem Arm und zwang sie, auszusteigen. »Nein, das haben Sie nicht!« widersprach er energisch. »Sie haben vorher bremsen können. Sie haben ihn nicht angefahren. Er ist verletzt, weil er vom Rad gestürzt ist, aber nicht, weil Sie ihn angefahren haben. Und er ist nicht tot, er lebt.«
»Was sagen Sie da?«
Langsam und sehr betont wiederholte er: »Der Junge lebt! Sie haben ihn