bei allem, was sie sagen wollte, lange nachdenken, und auch dann kamen ihr die Sätze nur stotternd über die Lippen. Alexander dagegen redete in einem fröhlichen Mischmasch aus Deutsch und Spanisch drauflos, ohne zu überlegen – und der kleine Pablo schien ihn ohne Probleme zu verstehen. Jedenfalls antwortete er in einem ebensolchen Mischmasch, und Alexander verstand jedes Wort.
Lisa Baumann war Sekretärin bei einer Kirchengemeinde, die vor einigen Jahren Verbindungen zu einer Gemeinde in Argentinien geknüpft hatte. Es hatte zunächst nur briefliche Kontakte gegeben, danach waren Pakete auf den Weg geschickt worden – und dann schließlich waren die ersten Gemeindemitglieder zu einem Besuch nach Argentinien aufgebrochen, und im Jahr darauf war der Gegenbesuch erfolgt. Daraus hatten sich herzliche persönliche Kontakte entwickelt, und die Idee war aufgekommen, jedes Jahr ein paar Kinder, die keine Eltern mehr hatten, dann zu einem mehrwöchigen Aufenthalt nach Deutschland einzuladen.
Lisa hatte sich in diesem Jahr zum ersten Mal an dieser Aktion beteiligt, und sie war froh, daß sie das getan hatte. Alexander litt manchmal darunter, daß er keine Geschwister hatte. Er hatte Pablo begeistert begrüßt, und seit der Junge hier war, waren die beiden unzertrennlich.
Als sie den Spielplatz erreicht hatte, konnte sie Pablo nirgends entdecken. Die anderen Jungen allerdings spielten noch immer Fußball.
»Wo ist Pablo?« rief sie ihnen zu.
Einige zuckten mit den Schultern, um ihr zu zeigen, daß sie es nicht wußten, aber José, der kleine Spanier, sagte: »Ich glaube, er ist mit Alexanders Rad weggefahren. Das wollte er immer schon mal machen, aber Alex hat ihn bisher nicht gelassen.«
Lisa hatte das Gefühl, daß ihr Herzschlag aussetzte. Sie hatte ihrem Sohn strikt verboten, Pablo mit dem Rad fahren zu lassen – das war in Berlin für einen Jungen, der nicht hier aufgewachsen war, viel zu gefährlich. Und genau das hatte sie auch Pablo gesagt. »Wo ist er?« fragte sie. »Wohin ist er gefahren?« Ihre Stimme klang ganz anders als sonst.«
»Keine Ahnung«, sagte José. »Aber er hat immer gesagt, er möchte mal zum Ku’damm.« Er zeigte zur Straße, die zwar nicht der Ku’damm war, aber wenn man ihr lange genug folgte, würde man dort landen.
Lisas Herzschlag setzte wieder ein und war nun auf einmal rasend schnell. Wenn Pablo nun wirklich auf die Straße gefahren war…
In diesem Augenblick kam ihr Sohn aus dem Haus – offenbar war er nun doch beunruhigt, wo Pablo so lange blieb. Lisa rannte zu ihm. »José hat gesagt, er hat ihn mit deinem Rad wegfahren sehen«, rief sie schon, bevor sie ihn erreicht hatte.
Alexander machte ein böses Gesicht. Er konnte es nicht leiden, wenn sich jemand an seinen Sachen vergriff, ohne ihn zu fragen – nicht einmal, wenn es sich bei diesem Jemand um Pablo handelte. Dann sah er das Gesicht seiner Mutter und begriff, daß sie Angst hatte.
»Ich seh’ mal nach, ob das Rad weg ist«, sagte er und rannte zurück.
Lisa folgte ihm. Vielleicht hatte sich José ja geirrt, sagte sie sich. Vielleicht hatte er einen anderen Jungen gesehen und ihn mit Pablo verwechselt. Wenn man ihn nur von hinten sah, konnte das leicht passieren.
Aber als sie an der Kellertreppe stand und Alexanders Gesicht sah, wußte sie, daß ihre Hoffnung sie getrogen hatte.
»Es ist weg«, sagte ihr Sohn und sah sie unsicher an. »Aber er ist bestimmt nicht weit gefahren – nur einmal um den Block.«
»José meint, er wollte zum Ku’damm«, entgegnete Lisa mit erstickter Stimme.
»Aber doch nicht allein!« widersprach Alexander voller Überzeugung.
»Ich weiß, daß er nochmal dahin wollte – wir sind ja erst einmal dagewesen. Aber er wollte mit uns dahin, Mami, ganz bestimmt, und nicht allein!«
»Geh nach oben«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich nehme mein Rad und fahre die umliegenden Straßen ab.«
»Ich will mit!«
»Erstens ist dein Rad nicht da, und zweitens möchte ich, daß jemand zu Hause ist, falls Pablo kommt. Verstehst du das?«
Er nickte, dagegen ließ sich nur schwer etwas einwenden. Mit hängendem Kopf schlich er die Treppen hinauf, während Lisa sich eilig auf den Weg machte.
Ich muß ihn finden, dachte sie. Er ist doch noch so klein, und er kann sich ja hier überhaupt nicht verständigen. Und außerdem bin ich für ihn verantwortlich. Wenn ihm nur nichts passiert ist!
*
Im Operationssaal herrschte angespannte Stille. Keine Spur von Scherzen oder lockerer Unterhaltung, wie es bei Routineoperationen üblich war. Aber dies war keine Routineoperation. Hier ging es um das schwerverletzte Bein eines jungen Mannes – und es ging darum, ob dieser junge Mann nach dem Eingriff noch eine Chance auf ein halbwegs normales Leben haben würde oder nicht.
Dr. Adrian Winter arbeitete seit Stunden voller Konzentration daran, gerissene Bänder zu nähen und die gebrochenen Knochen zu richten. Dr. Bernd Schäfer assistierte ihm. Adrian dachte nicht mehr daran, daß diese Operation eigentlich von einem Orthopäden hätte durchgeführt werden müssen. Er war ein hervorragender Chirurg, und im Grunde fand er solche ungewöhnlichen Aufgaben höchst interessant. Zum Glück war die Kniescheibe nicht zertrümmert, aber der Patient würde sich trotzdem auf eine lange Genesungszeit einrichten müssen. »Bei dem Schienbein bin ich ganz optimistisch«, murmelte Adrian, »aber das Knie – also, ich weiß nicht. Ich möchte nicht gern, daß der Patient mit einem steifen Bein leben mußt.«
Bernd Schäfer schwieg. Paul Lüttringhaus würde nicht mit einem steifen Bein leben müssen, davon war er bereits überzeugt. Was Adrian in der vergangenen Stunde hier im OP gemacht hatte, grenzte für ihn an Zauberei. Niemals würde er ein so guter Chirurg werden wie sein nur unwesentlich älterer Kollege, das wußte er. Normalerweise litt er nicht darunter, daß er vermutlich in seinem Beruf nur guter Durchschnitt sein würde, aber jetzt wünschte er sich doch, über solche Fähigkeiten zu verfügen wie Adrian. Wie sicher er war – und wie vorsichtig zugleich! Selbst in schwierigen Situationen verlor er die Übersicht nicht, sondern blieb ruhig und gelassen. Bernd Schäfers Bewunderung für Adrian Winter war grenzenlos.
»Was meinst du?« fragte Adrian. »Werden uns die Kollegen von der Orthopädie die Köpfe abreißen, wenn sie das hier sehen?«
»Quatsch«, murmelte Bernd. »Die werden dich zu deiner großartigen Arbeit beglückwünschen.«
Adrian warf ihm einen scharfen Blick zu. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, Bernd! Ohne dich wäre ich verloren gewesen bei dieser Operation. Und wenn noch mal zwei Jahre vergangen sind, dann machst du solche Sachen selbst.«
Bernd errötete vor Freude über die Anerkennung, die aus diesen Worten sprach – auch wenn er selbst fand, daß er sie nicht verdient hatte. Aber so war Adrian eben! Andere an seiner Stelle hätten sich etwas eingebildet auf ihre Fähigkeiten, Adrian Winter dagegen dachte zuerst daran, sich bei den Kollegen für die Unterstützung zu bedanken.
»Willst du den Rest übernehmen?« fragte Adrian.
Bernd nickte. »Gern. Weißt du überhaupt, wie froh ich bin, daß du aufgetaucht bist? Julia hat mich vorher so angesehen, als wolle sie sagen, daß ich den Mann operieren soll!« Bernd schauderte allein bei der Erinnerung daran.
Adrian nickte. »Ich bin einmal in einer ähnlichen Situation gewesen – das war, als ich noch gar keine OP-Erfahrung hatte. Die anderen haben so getan, als müßte ich nun endlich ins kalte Wasser springen. Als ich begriffen habe, daß sie mich nur aufziehen wollten, hat nicht viel gefehlt, und ich wäre in Tränen ausgebrochen vor Erleichterung!«
Mit freundlichem Lächeln verabschiedete sich Adrian von der Anästhesistin und der OP-Schwester und ging hinaus.
Draußen streckte er die müden und verspannten Glieder. Ein merkwürdiger erster Urlaubstag, dachte er. Nun, er würde noch einmal nach dem Kind und der jungen Frau mit den Veilchenaugen sehen – und dann konnte er sich überlegen, was er mit dem Rest dieses Tages anfangen wollte.
*