Sarah Kern

Sarah Kern - LEBEN!


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Touristen und Berufstätigen wie gleichgeschaltet in entgegengesetzten Richtungen zäh voran. Wie gelernt, gingen auch wir beide mit dem Strom, ohne einen Gedanken an derlei Automatismen zu verschwenden. Obwohl, mich beschäftigte es schon. Aber was mich schließlich am Ärmel meines Vaters zupfen ließ, hatte nichts damit zu tun, dass eine schier undurchdringliche Wand aus Erwachsenen auf ein kleines Mädchen überaus bedrohlich wirken konnte. Vielmehr bereitete es mir großes Unbehagen, wie ein Schaf der Herde zu folgen:

      »Papa?«

      »Ja, mein Kind?«, antwortete er wohlwollend und sah dabei liebevoll zu mir hinunter.

      »Können wir da drüben weiterlaufen?«, fragte ich hoffnungsvoll und wies mit ausgestrecktem Finger auf den entgegengesetzt verlaufenden Menschenstrom.

      Daraufhin sah mich mein Vater mit schelmischem Grinsen an, so als empfand auch er die eingefahrene Situation als einen Anachronismus, und sprach die magischen Worte, welche mich bis zum heutigen Tag prägen und definieren sollten:

      »Ja, meine Tochter. Du hast alles was im Leben relevant ist begriffen. Selbstverständlich können wir gegen den Strom weitergehen.«

      Ich sah den Stolz in seinen Augen, hörte ihn in seiner Stimme. Natürlich würden wir mehr Zeit brauchen, doch das war ihm in dem Moment egal. Seine Tochter hatte Charakter bewiesen, darauf kam es ihm an. Ich wiederum erfuhr an der Stelle einen unvergessenen Rückenwind.

      Mein Vater war und ist eben auch ein bisschen Apo-68er, also Anti-Norm-Mensch und Freigeist, der schon mit uns zweijährigen Kindern auf Augenhöhe über Politik sprach und für den ein Auto von Anfang an ein Auto war und eben kein „Brum-Brum“. Dazu passte meine dänische Mutter, die anfangs noch kein Deutsch sprach, weshalb dänisch zu meiner ersten Muttersprache wurde. Sie war eine elegante nordische Protestantin und als Textilingenieurin eine Akademikerin. Studiert in Kopenhagen, lernte sie dort meinen Vater kennen. Es folgte die Eheschließung und der Umzug nach Deutschland, wo sie meinem zwei Jahre älteren Bruder Niels, meinem Zwillingsbruder Lars und mir das Leben schenkte. Niels, ein dunkelhaariges schönes Kind und ein toller lieber Mensch, der die Schule dank seiner Intelligenz quasi im Vorbeigehen als Klassenprimus gemeistert hat, wurde außerdem schon früh ein passionierter Surfer. Lars hingegen war ein typisch dänischer, weiß-blonder Junge, ansonsten aber von ebenso tollem und liebem Charakter und schön anzuschauen wie Niels.

      Während ich in Köln schließlich das Elisabeth-von-Thüringen-Gymnasium besuchte, gingen meine Brüder derweil ins dortige Schiller-Gymnasium. Mittlerweile in der zehnten Klasse angelangt, schickten die Eltern uns zeitversetzt nach Amerika, um unser Englisch aufzupimpen. Das erste Mal so richtig von zuhause weg, das war schon cool. Bei unserer Rückkehr fiel besonders Niels mit seinen in den USA gerade mega-angesagten Schachbrett-Vans auf, was ihn alleine schon zum Star der Schule gemacht hätte. Hinzu kam, dass wir auch ein Haus in Holland hatten und Papa uns zum Wochenendtrip dorthin mit einem großfamilientauglichen Citroën Break direkt vom Gymnasium abholte, inklusive fünf neonfarbenen Surfboards nebst Zubehör auf dem Dach, was uns in den Augen der anderen zu Rockstars machte. Man darf nicht vergessen, Surfen war damals gerade extremst angesagt.

      Schule als solches fand ich jetzt nicht so wirklich geil, genoss viel lieber eine wundervolle Kindheit in unserem schönen Haus in Lindenthal, einem linksrheinischen Stadtteil von Köln nahe der Decksteiner Mühle, wo die Oberschicht zuhause war. Tatsächlich hatte jener illustre Biergarten auch ein Mühlrad neben einem Rapunzelchen-Zimmer im märchenhaften Türmchen des Hauses zu bieten – was wollte ein Mädchenherz mehr. Meines einiges mehr und so habe ich Hockey gespielt, Ballett getanzt, bin geritten und anderes mehr. Dank meiner Eltern hatte ich alle Möglichkeiten, mich zu entfalten und mich weiterzuentwickeln. Es war geradezu perfekt.

      Oft zu Besuch war mein Großvater, ein renommierter dänischer Maler namens Helge Rasmussen, der insbesondere für seine Schiffsmalerei bekannt ist. Eine sehr angenehme Persönlichkeit, welche für mich die weite grenzenlose Welt repräsentierte. Er lebte in den USA, hatte zeitweise aber auch bei einem Enkel des französischen Malers Paul Gauguin auf Tahiti gelebt. Wir waren uns sehr nahe.

      Fakt war aber auch, dass ich aus einem nahezu perfekten Haushalt kam, mit Brüdern, die super in der Schule waren und von denen der ältere Niels – Schwarm aller Mädchen auf dem Schiller-Gymnasium – sein Abitur bereits mit siebzehn Jahren absolvierte, ein Doppelstudium hinlegte, um direkt von der Uni abgeworben zu werden. Und nicht nur er war eine Koryphäe im Surfen, auch mein Zwillingsbruder Lars schaffte es damals bis in den Kader der Weltsurfer neben Stars wie dem 42-fachen dänisch-niederländischen Weltmeister Björn Dunkerbeck oder dem mehrfachen Weltmeister aus den USA, Robby Naish. Natürlich zogen meine erfolgreichen und blendend aussehenden Brüder weitere schöne Menschen an. Genauso wie meine Mutter, die von ebenso kühler wie anmutiger Eleganz geprägt ganz Dame war. Mein Vater, charismatisch und intellektuell wie er war, reihte sich da nahtlos ein. Schönheit und Stilsicherheit spiegelten sich in allen Lebensbereichen wider, bis ins Interieur mit Macumba-Lampen oder den Bauhaus-Einflüssen eines Marcel Breuer. Einfach alles war vom feinsten.

      Ich denke schon, dass dieser Sinn für Schönheit, Eleganz und Perfektion einfach auf mich übergehen musste. Auf der anderen Seite kollidierte genau das mit meiner Anti-Norm-Haltung, befeuerte und verstärkte diese wahrscheinlich noch.

      Auch dazu gab mein Vater mir eine Lebensweisheit mit auf den Weg, die ich niemals vergessen sollte, weil sie meine eigene Wesensart so vortrefflich rechtfertigen sollte:

      »Sarah, neunzig Prozent der Menschen sind Arschlöcher, Schubladendenker und Herdentiere.«

      Tausend Dank für diese Worte, Papa, an die ich mich seither immer wieder gerne erinnert habe. Dank deiner Worte habe ich mich bestätigt und selbstsicher in meinem Anderssein fühlen dürfen.

      Ich muss gestehen, dass meine Entscheidungen auf dem Weg zur Selbstfindung mitunter harte Belastungsproben für meine Eltern mit sich brachten. Den Vogel schoss ich wohl mit meinem ersten festen Freund ab, dem Bassisten einer Rockband – ich war erst vierzehn Jahre alt, er hatte schon sechzehn Jahre auf dem Buckel. Ästhetisch betrachtet war er der genaue Gegenentwurf zu meinem gewohnten Umfeld. Davon durfte sich als erste meine arme Mutter überzeugen, als es eines schönen Tages an der Haustür schellte.

      Wie sich das für eine liebende Tochter gehört, tat ich natürlich mein Bestes, um ihr den größten Kulturschock zu ersparen und bereitete sie zuckersüß auf das nun Folgende vor:

      »Mama, nicht erschrecken, da kommt gleich einer. Bitte fall‘ nicht um und lass die Teller nicht fallen. Der sieht ein bisschen krass aus, aber der ist voll nett …«

      Vermutlich hätte ich sagen können, was ich wollte, der nahen Katastrophe hätte ich rein gar nichts entgegensetzen können. Was meiner an sich hartgesottenen Mama dann gegenüberstand, sah aus, wie der zerfledderte Zwillingsbruder von Billy Idol – weißblond gefärbte Matte, spitze Stiefeletten im London-Style, enge schwarze Jeans und schwarze Lederjacke, Kippe im Maul. Zu allem Überfluss gesellte sich zum Outfit noch eine lässig formlose Frage, wobei sich der Besucher nicht einmal jetzt die Mühe machte, seine Zigarette aus dem Mund zu nehmen:

      »Ist die Sarah da? Hi.«

      Wie nicht anders zu erwarten, entglitten meiner Mutter die Gesichtszüge, sprachlos und gelähmt vor Entsetzen. Nur gut, dass sie kein Geschirr in der Hand hielt.

      Und das sollte erst der Anfang der Odyssee sein. Weitere Experimente nahmen ihren rasanten Lauf, sehr zum Leidwesen meiner Eltern, wie man sich vorstellen kann. Ich ließ mir einen „Undercut“ schneiden, bürstete hoch und sprayte was das Zeug hielt, trug Fischnetz-Stockings und hing nur im Proberaum der spätpubertierenden Band ab. Das alles war für mich neu, aufregend und sexy. Mein Freund entsprach keiner Norm, er lass Bücher von Bukowski, war selbst seinen Altersgenossen intellektuell voraus. Derweil herrschte bei meinen Eltern Alarmstufe Rot. Für sie waren Musiker gleichbedeutend mit Drogen. Und sie hatten allen Grund, besorgt zu sein. Kaum hatte ich den Billy-Idol-Verschnitt als meinen Freund präsentiert, machte es auch schon ding-dong an der Haustür, und Vertreter der Staatsmacht nahmen die geliebte Tochter für eine Aussage mit aufs Revier. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Vor diesem Umfeld musste ich unter allen Umständen geschützt werden, auch gegen meinen Willen.