grau und verwittert aus dem rotblühenden Heidekraut emporragten.
Dort saß ein kleiner Junge und weinte bitterlich.
Hubert stutzte und schaute schärfer hin.
Es war Sören, der Junge vom Vordrescher, ein armer, verwachsener Knabe, der mit seinem schiefen Körper nicht an den wilden Banditenspielen der andern teilnehmen konnte, meist verspottet und durch die rohe Grausamkeit, die so oft Kindern eigen ist, zurückgestoßen in trostlose Einsamkeit.
Hubert hat schon oft seine Hände schützend über den Armen gebreitet, und auch jetzt regen sich Mitleid und Edelsinn in seinem Herzen.
Er tritt schnell neben den Weinenden.
»Was ist denn los, Sören? Was heulst du? Hat dich einer geschlagen?«
Da sehen ihn zwei tieftraurige blaue Augen wie hilfeflehend an.
»Nein, Hubert, heut nicht. Aber ich hab hier auch einen kleinen Drachen geklebt, in der Form einer Taube. Und nun dachte ich es mir so schön, ihn einmal fliegen zu lassen.«
»Na, dann laß ihn doch steigen!« Der kleine Giöreczy blickt voll unverhohlenen Interesses nach dem seltsamen Papiergebilde, das die schmale, feingliedrige Hand des verwachsenen Kindes hinter dem Felsen hervorzieht und es mit ängstlichem Forschen hinhält.
Wirklich, wie ein richtiger großer Vogel aus Papier, mit breiten Flügeln, einem steifen Schwanz und Kopf sah es aus.
»Das ist ja famos, Sören! Wirklich fein hast du das gemacht! Du ganz allein?«
Die verweinten Augen leuchten auf, ein Blick innigen Dankes trifft den kleinen Grafen für dieses gute Wort; es ist eine seltene Kost für den verspotteten Jungen.
Er nickt. »Ganz allein! Und ganz schnell gings!«
Hubert hält die Taube in der Hand, sein lebhaftes Gesicht färbt sich.
»Das Ding wird gut fliegen, und lustig aussehen muß es als großer Vogel auch«, ruft er und prüft den primitiven Drachen aus Zeitungspapier.
»Mal flink in die Luft mit ihm! Wo hast du denn die Strippe, Sören?«
Da quollen wieder heiße Tränen aus den Augen des Kindes.
»Ich hab keine! Die Mutter gibt keinen Bindfaden, weil der für die Wäsche zum Aufhängen ist, und Vater schlägt mich, wenn ich um etwas bitte, was Geld kostet.«
Huberts schönes Gesicht spiegelt das tiefe Mitleid wider, das er empfindet.
»Na, sei still! Ich hole von der Großmutter eine feine Rolle, sie hat ja so viel!« Die anderen Kinder haben sich mit Interesse herangedrängt.
»Natürlich! Du kriegst ja so viel, als du nur willst, Hubert«, grinste Willem, der große, schlaksige Bengel mit den boshaft zwinkernden Augen, »und dann nimmst Sören den Vogel weg und läßt ihn für dich steigen!«
»Ja, ja! Das tu! Das tu!« johlt und kreischt es im Kreis, und alle Blicke richten sich auf Sörens blasses Gesicht, das bei diesen Worten zu erstarren scheint.
Ein Zittern geht durch die Glieder des Verwachsenen, wie in flehender Qual haftet sein Blick auf Huberts Antlitz.
Der kleine Graf runzelt unwillig die Brauen.
»Bin ich ein Dieb, du frecher Lümmel?« läßt er den Willem heftig an, daß sich der Bauernbub so scheu duckt wie der Hund vor seinem Herrn. »Was der Sören sich geklebt hat, gehört ihm, und den Drachen läßt er nachher steigen, so will ich das!« Der Sprecher winkt dem Weinenden und sagt: »Komm mit, daß es die Großmutter auch sieht, wie hübsch diese Taube ist.«
Ein seliges Aufatmen! Wie ein Leuchten höchster Begeisterung und Liebe geht es durch die tränenfeuchten Augen des Kindes. Er springt auf und geht, so schnell er mit der schiefen Hüfte kann, neben Hubert dem Heidehaus zu.
»Kommst wohl außer Atem?« fragt der Erbe des Klaus Raßmussen, dem seine Beschützerrolle Spaß macht. »Na, stopp ab! Ich gehe langsamer.« Wieder dieser Blick unbeschreiblicher Dankbarkeit in Sörens Augen.
»Weißt du, Hubert«, sagt er, »ich hab immer die Vögel beneidet, daß sie empor zum Himmel konnten, und wir mit unseren schweren Gliedern müssen so erbärmlich an der Erde kleben. Weißt du, Hubert, es muß schön sein, wie ein Vogel zu fliegen, das wünsch ich mir schon lang!«
Die dunklen Glutaugen des kleinen Deutsch-Ungarn heften sich aufblitzend auf den Sprecher. »Du auch, Sören? Ja, wie kommst denn du auf solche Gedanken?«
»Ich sitz so viel allein im Heidekraut, und das lahme Bein läßt es nicht zu, daß ich mit euch springe und spiele; da sehe ich zu, wie die Vögel so hoch, hoch hinauffliegen. Und weißt du, Hubert, da kommt mir manchmal der Gedanke, daß das schön sein muß. Möcht wohl wissen, wie es im Himmel ist.«
Giöreczy bleibt stehen und blickt seinen Freund groß und nachdenklich an. »Du bist der erste, Sören, der so denkt wie ich. Die andern sind Esel und fragen nach nichts.« Er blickt nachdenklich empor in das graudunstige Gewölk, das hoch über ihnen wie feine Rauchschwaden dahinzieht. »Hast recht, Sören. Es muß schön da oben sein. Weißt du so die ganze Welt zu Füßen! Ich denke mir, wenn man so hoch hinaufkönnte, wie unsre Drachen steigen, muß man bis Berlin sehen können und das Meer ... vielleicht auch Italien, wo die Apfelsinen wachsen.«
»Ja, ja, gewiß wohl! Und die Vögel können hoch und wir nicht«, seufzt der Verwachsene. Da flammt es wieder in Huberts dunklen Augen, die leidenschaftliche Sehnsucht, der tolle, kühne Wagemut, der eiserne Wille, der schon jetzt erzwingen möchte, was er begehrt. »Hab schon manchmal gedacht, Sören, ich möcht mal einen großen, ganz riesig großen Drachen kleben, weißt du, einen, der was aushält, vielleicht von schwarzem Schürzenzeug wie der Antje ihre bunten, nicht von Papier, weil das reißt. Und dann ...«, Hubert neigt sich flüsternd näher, »dann möchte ich mich dranhängen und mich hoch hinauftragen lassen, siehst du, Sören, dann hätt’ ichs erreicht!« Ein fast anbetender Blick trifft den Sprecher. Sören kann kaum sprechen, so schnell geht sein Atem.
»Schön wärs! O mein Gott, sehr schön! Aber, Hubert, wenn der Drachen zerreißen würde? Dann stürzt du hinab und kannst tot sein!« Die Mundwinkel Giöreczys neigen sich noch tiefer, verächtlich hebt er die Schultern. »Glaubst du, ich fürchte mich?« fragt er stolz. Der Kleine erschrickt und faßt wie flehend nach der Hand des jungen Grafen. »Du dich fürchten, Hubert? Ich glaube, eher ging die Welt unter. Nein, das nicht! Du hast immer Mut. Mir würde es nur so leid sein, denn du bist der einzige, der gut zu mir ist.«
»Wenn du auch Courage hast, kannst du ja mitkommen.«
Einen Augenblick überlegt der Verwachsene. Dann hebt er tief atmend das schmale, blasse Gesicht, und seine Augen haften wie in zärtlicher Hingabe auf seinem Begleiter.
»Ich denke, ja! Ich möchte dich begleiten.« Er sagt es schlicht, und Hubert hat es kaum beachtet, aber in Sörens Seele brennen sich diese Worte ein, wie mit feurigem Stift geschrieben. Sie stehen am Fenster, hinter dem Frau Friederike sitzt.
Sie öffnet, hört den Wunsch ihres kleinen Gräfleins und gibt ihm sogleich die größte und dickste Rolle Bindfaden.
Hubert knüpft ihn an den Drachen.
»Nun ists deiner! Willst du ihn steigen lassen?« fragt Sören, und die Sorge liegt auf seiner Stirn.
»Nein, die Taube gehört dir!« schüttelt der kleine Doppelländer den Kopf. »Ich lasse sie für dich an, und du nimmst nachher den Faden und läßt dein Vöglein mit unsern Drachen um die Wette fliegen.«
Ein leises, halbersticktes Jauchzen von des Kranken Lippen, er möchte danken, sagen, was er fühlt, er kann es nicht. Scheu faßt er nach Huberts Hand und streichelt sie. Der zieht die Finger zurück und lacht.
»Mach keine Faxen! Komm!«
Und Sören läßt sein Täubchen steigen; es flog am höchsten von allen und gewann den Sieg.
Von Stund an gab es nichts Höheres, Besseres und Herrlicheres für ihn als Hubert Giöreczy.