lösen sich wie in einem tiefen Seufzer auf.
Ein breiter Felsvorsprung, ein Daumensprung seitlich im Bild, versperrt die Sicht auf den kleinen Bergort, an dessen Rand mein Haus steht. Ich befinde mich auf der Suche nach mir selbst, nicht nur auf dieser Wanderung, nein, seit ich wieder auf der Insel bin.
Vorgestern, am Nachmittag, die Sonne durchflutete das Zimmer mit strahlender Helle, fiel mir dieses bestimmte, in unserem Zirkel damals auf dem Index stehende Buch in die Hand. Ich zögerte, und das Zögern war eine Mischung aus einem Hauch schlechten Gewissens und aufsteigender Vorfreude auf den Text. Schlage ich das Buch auf, wird es mich auch heute noch in Schwingungen versetzen mit seiner Sprache und dem hohen Niveau?, fragte ich mich. Ein Grinsen beendete die temporäre Sperre, ich folgte meinem Gefühl, sagte mir, ein Sonnenstrahl sei es gewesen, deren goldener Finger Die Bereinigung aus der Regalwand pickte.
Erst am Abend, auf dem kleinen Tisch neben mir ein Glas Rotwein – auf der Insel war ich ein Rotweintrinker! – nahm ich Eustachius’ Buch, das es seinerzeit über Nacht zum Bestseller brachte, schlug es auf und begann nach schnellem, fast aufgeregtem Blättern zu lesen.
Ich las den Text, der gerade mal knapp über zweihundert Seiten umfasste, nicht zum ersten Mal, war also vorbereitet auf die harte Kost, die bedrückenden Szenen und Bilder, die einem sofort unter die Haut schlüpften. Die Bereinigung war das erste Buch von Eustachius, den FvF persönlich als MH Wagatha, ich beim Erscheinen des Romans nur vom Hörensagen kannte. Eustachius, der nicht nur mit diesem Buch, sondern auch mit seinen nachfolgenden Büchern für Furore sorgte, mit ihnen ein neues Genre begründete, das bald Future Fiction benannt wurde. Obwohl wir davon ausgingen, dass MHW aus Zorn schrieb, wir seine plötzliche, wie aus dem Nichts kommende Popularität überhaupt nicht gern sahen, sogar richtig fürchteten, seine Texte als vage, aber gleichwohl deutliche Anspielungen, sie darum als Fehdehandschuh betrachten durften, wurde das glücklicherweise allein nur in unserer Wagenburg so gesehen. Es war uns alles andere als eine Freude, dass MHW für beinahe jedes seiner Bücher mit irgendeinem Preis ausgezeichnet wurde.
Was haben die, die den Text eines fiktiven Romans besser zu verstehen glauben als der Autor selbst, alles über Die Bereinigung geschrieben? Die wichtigsten Kritiken, die seriösen Besprechungen in den großen Zeitungen, habe ich alle gelesen, nur wenige, die unverfänglichen, an Fabian weitergegeben. Wer, so wie ich, das Buch mit dem richtigen Hintergrundwissen las, meinte trotz des Nebels der vielen Worte das eigentliche Wollen zu erkennen. Und ich konnte nachvollziehen, weshalb FvF die latente Beunruhigung durch den ehemaligen Kollegen und Freund fürchtete. Seine nächsten Bücher kamen für uns jedes Mal als ein Beweis dieser bösen Ahnung.
In der unmittelbaren Folge der Bereinigung ließ ich mir von einem IT-Mitarbeiter bei FinCon, einem Inder, einen anonymen Blog einrichten, das heißt, ich wollte möglichst verhindern, dass ich erkannt wurde. Fabian wusste davon und ließ mich gewähren. Ich weiß, meine kurzen Aphorismen im Stil eines niveauvollen Colloquiums zu genau ausgewählten Textstellen der Bereinigung amüsierten Fabian. Sibil hat es mir erzählt.
Wenn ich am späteren Abend im gedämpften Licht am Laptop saß, ein Glas Whisky auf dem Tisch, dann machte mir das Schreiben richtig viel Spaß. Der Whisky beruhigte meine Dämonen und regte mich zu geistigen Sprüngen an. Ein zweites Glas war aber schon zu viel, fand ich heraus. Übrigens, dieser Blog sollte uns später noch von gutem Nutzen sein.
Ebenfalls nicht auf ein Wort von FvF hin, aber mit seiner Zustimmung, vor allem aus dem ernsten Bewusstsein heraus, der unterschwelligen Gegnerschaft von MHW entgegenzutreten, schrieb ich das erste Buch im Namen von Fabian. Es hatte den kaum erhofften Erfolg, Fabian auch in den intellektuellen Kreisen zu einem ernsthaften Thema werden zu lassen.
Die Bereinigung
Eustachius und sein Buch: Er hielt sich nicht erst lange mit Vorgeplänkel auf. Er zeigt unverblümt, wohin der auf leisen Sohlen sich anschleichende Populismus und nach Erringung der Macht deren Missbrauch führen können. Noch ärgerten mich diese Anspielungen, die wir auf Fabians politische Ziele gerichtet annahmen.
Nach nur kurzer Einführung in den Zustand der Gesellschaft stieg er gleich mit einem Paukenschlag in Die Bereinigung ein. Ein älterer Mann kommt in die Klinik, um seine Frau zu besuchen. Das Zimmer ist leer. Seine Nachfrage läuft ins Leere, seine Frau war nie Patientin in der Klinik, bekommt er als Auskunft. Diese Worte machen seinen Albtraum real, was ihn völlig verstört. Im Park gegenüber versucht er mühsam, seine innere Ordnung zurückzugewinnen. Er lässt sich auf einer Bank nieder, als ihm der Atem ausgeht. Die blanke Angst hat ihn gepackt, weiß er doch, dass er bei Nachforschungen auf einem Hochseil balancieren wird. Macht er einen falschen Schritt, wird auch er im Nichts verschwinden. Aber er kann nicht anders, beschließt, den gefahrvollen Weg zu versuchen, unbedingt seine Frau zu finden. Notfalls wird er sie auch aus der Unterwelt zurückholen, seiner Eurydike der Orpheus sein. Bei seinen Nachforschungen kommen ihm seine Verbindungen zugute. Er war leitender Ingenieur bei einem Rüstungskonzern, hat in alle Richtungen Kontakte, die er glaubt anzapfen zu können. Mit Geschick und viel Glück fragt er sich voran. Seine lange verdrängte Vermutung, jedoch längst innere Gewissheit, erweist sich mit jedem Schritt als richtig, allerdings als zu harmlos. Was im Lande geschieht, ist verdammt noch mal ein Horror. Die Demokratie ist längst sanft beerdigt, führt allein durch schöne Worte der Politiker ein vordergründiges Scheindasein. Die Politiker dienen dem eigenen Wohl, agieren Marionetten gleich an den unsichtbaren Fäden finsterer, gesichtsloser Mächte aus der Wirtschaft und dubioser Stiftungen. Die Begleitmusik des Geschwätzes spielen die bunten Bilder und leeren Wortkaskaden der Medien. Eustachius’ kauziger Held schleicht auf Samtpfötchen um alle Fallstricke herum. Die nicht sichtbaren Hände, Ohren, Augen der Geheimdienste überwachen die Menschen mit allen denkbaren Möglichkeiten der digitalen Technik auf Schritt und Tritt. Die elektronischen Medien sind längst für jeden Einzelnen zu einer gefährlichen Falle geworden. Wer sich im Internet aufhält, Mails versendet, Bestellungen mit Karte zahlt, die ganze Palette eben, wird sofort von den tausend heimlichen Augen erfasst und gespeichert. In diese bedrückende, freudlose Welt seines Helden blendet Eustachius perfide scheinbar originale Agenturmeldungen ein, die den Zustand des Landes zusätzlich beschreiben, eigentlich erst auf den Punkt bringen: Das Bargeld ist längst abgeschafft. Firmen entlassen alle Mitarbeiter, die über fünfzig Jahre sind, außer die an der Spitze. Die Regierung erhöht das Renteneintrittsalter. Scharfe Kampagnen laufen gegen Rentner und Arbeitslose. Betriebsrenten werden ersatzlos gestrichen. Starke Rentenkürzungen machen ein normales Leben fast unmöglich. Die Politiker verharmlosen die nicht mehr zu übersehenden Folgen dieser Maßnahmen, kleistern sie sorglos mit Gesülze zu. Eustachius’ immer verzweifelter werdender Held irrt durch eine sich in Einzelteile auflösende Gesellschaft. Er kommt in Kontakt mit Gruppen, die in der Masse Solidarität zu wecken versuchen, allerdings ein vergebliches Unterfangen. Die Organisatoren werden schnell gefunden, von der Straße weg verhaftet und verschwinden spurlos. Auch in Kirchenkreisen ist keine Unterstützung, nicht einmal Hoffnung zu finden. Die Amtskirche ist auf Linie gebracht, hat sich mit der Macht verbündet. Alle humanistischen Werte sind keinen Pfifferling mehr wert. Im Land geht die Angst um. Mittellose werden in Gettos verfrachtet, die aus allen Nähten platzen. Unzählige Schwerkranke werden still und schnell mit Spritzen getötet. Langzeitarbeitslose, auch die ärmsten Rentner, scheinen sich einfach in Luft aufzulösen, sind über Nacht nicht mehr da. Eustachius’ armer Mann hat es aufgegeben, nach der Wahrheit, ein Wort ohne Inhalt, des Verschwindens seiner Frau zu suchen, weiß, dass er gegen Windmühlenflügel kämpft. Er schließt sich einer Gruppe an, einer politischen Sekte, deren junger charismatischer Führer Auswege aus dem Chaos zu versprechen weiß. Doch schon bald bekommt der neue Mitläufer doch so seine Zweifel, ob er nicht einem Blender, einem wortgewandten Scharlatan folgt. Aller inneren und äußeren Stützen ledig, steht der Mann an einem nebligen Morgen auf der Brücke über dem Fluss, starrt hinunter in das dunkle Wasser.
So endet das Buch, das, offenbar gewollt, in vielen Gedanken kafkaesk, in seiner Bösartigkeit monströs ist, aber furios mit möglichen Möglichkeiten spielt.
Wohl gerade weil Eustachius das Ende offenlässt, die vielen Fäden der Erzählung nicht zu einem Knoten verbindet, keine Lösungen beschreibt, das Dunkel konsequent nicht heller werden lässt, macht das den Erfolg seines Erstlings aus.
Allein