befand ich mich auch schon seitlich auf einer Liege. Mein Rücken im Lendenwirbelbereich wurde desinfiziert. Mit einer langen dünnen Hohlnadel stach mir die Ärztin bis zu der Stelle, wo sie Nervenwasser entnehmen konnte. Sie zog nur wenige Milliliter auf, aber ich spürte genau, wie sich etwas in mir zusammenzog. Es tat nicht weh, fühlte sich aber so an, als ob ich von einer reifen Weintraube zur Rosine zusammenschrumpfte.
Im Anschluss musste ich viel trinken, damit sich die wenigen Milliliter Nervenwasser möglichst schnell wieder auffüllten und ich keine Kopfschmerzen bekäme. Während ich ein Glas Wasser nach dem anderen trank und im Krankenhausbett lag, zuckten meine Beine mehrfach unkontrolliert. Gruselig. Eine Begleiterscheinung der Untersuchung, wie man mir sagte. Irgendwas wurde bei der Liquorentnahme stimuliert. Zum Glück hörte es nach einer Weile von alleine auf. Die Tests machten mich müde, vor allem die Anspannung vor der Lumbalpunktion. Ich schlief früh ein.
Am nächsten Morgen erhielt ich die Auswertung. Die Lumbalpunktion ergab drei oligoklonale Banden*. Schon wieder ein Begriff, mit dem ich nichts anfangen konnte. Im Abschlussbericht stand, dass alle Befunde zusammengenommen ein klinisch isoliertes Syndrom (CIS) ergaben und mir nach den McDonald-Kriterien* keine Diagnose auf Multiple Sklerose gestellt werden konnte. Außerdem galt ich nicht als Hochrisikopatientin und somit empfahlen sie keine immunmodulatorische Therapie. Dennoch sollte ich mir einen Neurologen suchen, bei dem ich mich von nun an einmal im halben Jahr vorstellen würde. Außerdem rieten sie mir zu einem erneuten MRT in sechs bis neun Monaten. Da ich kein Kopfweh oder andere Beschwerden hatte, wurde ich entlassen und durfte nach Hause fahren.
Das Einzige, was für mich zählte, war die Tatsache, dass ich keine Multiple Sklerose hatte.
Von dieser Krankheit hatte ich bisher nur Schlimmes gehört. Da saßen die Leute doch nach kurzer Zeit im Rollstuhl und konnten keinen Sport mehr machen. Eine grausame Vorstellung, denn ich liebte Sport, Tanzen und überhaupt ein Leben, in dem ich nicht auf fremde Hilfe angewiesen war.
Weiter wie bisher
Die Tage in Düsseldorf und die Untersuchungen in Dresden verdrängte ich zunehmend. Mein Fokus lag auf meinem Studium und das lief gut. Dass ich ab und an in Vorlesungen einschlief, schob ich auf den langweiligen Stoff.
Informationstechnik war so ein Fach – früh morgens, als Doppelstunde und sehr technisch. Da wir nur 60 Studenten waren, fiel dem Professor mein Schlafen natürlich auf und Sympathiepunkte sammelte ich damit bestimmt nicht. Nicht schlimm. Ich wollte nicht Informatik studieren und musste die Prüfung nur bestehen.
Meist fuhr ich am Donnerstag nach Dresden, weil es da eine passende Mitfahrgelegenheit gab. Dadurch verpasste ich die Vorlesung in Wirtschaftsrecht, konnte dafür aber freitags und samstags jobben und verdiente genügend Geld. Nach der Arbeit legte ich mich meist hin und schlief ein paar Stunden, damit ich fit für das Abend- und Nachtprogramm war. Ich traf mich mit Freunden in einer Bar, wo wir lange quatschten und lachten. Manchmal gingen wir danach noch feiern. Auch das hätte ein Grund für meine Müdigkeit sein können.
Meinen Freund sah ich auf den Partys. Gegen 5 Uhr morgens fuhren wir gemeinsam in seine Wohnung, holten uns vielleicht noch etwas zu essen am Bahnhof. Am Sonntag frühstückten wir zu Hause, dösten am Nachmittag und schauten Dokumentationen. Abends fuhr er mich in meine Einraumwohnung in Mittweida, wo wir Essen bestellten und es beim Tatort anschauen verspeisten.
Montagmorgen schwänzte ich oft die Mathematikvorlesung. Der Professor mochte keine angehenden Medienmanager*innen und betonte dies immer wieder. Er hielt uns für dumm und faul.
Ich ließ mich nicht gern beschimpfen, erst recht nicht am Morgen. Also frühstückte ich mit meinem Freund. Danach fuhr er zurück nach Dresden und ich besuchte die zweite Vorlesung des Tages.
Meinen Freund sah ich nicht oft. Daran hatte ich mich gewöhnt. Immer war er arbeiten. Ich hinterfragte das nicht mehr.
Verlaufskontrollen bei der Neurologin
Mein Onkel, selbst Arzt an der Uniklinik auf einem anderen Gebiet, empfahl mir eine Neurologin. Ich erhielt eine Zusammenfassung der bisherigen Untersuchungen und Ergebnisse für die Ärztin mit der Bitte um Weiterbetreuung. In dem Schreiben riet die Oberärztin der Uniklinik zu einer Verlaufskontrolle per MRT in sechs bis neun Monaten. Sollten sich dabei oder durch die Kontrolltermine bei der Neurologin neue Erkenntnisse ergeben, sollte ich wieder in der Uniklinik vorstellig werden.
Zu meinem ersten Besuch bei der niedergelassenen Neurologin im März 2004 saßen im Wartezimmer mehrere Patienten. Einer wippte vor und zurück, ein anderer hatte Spasmen und ein dritter konnte niemandem in die Augen sehen. Ich fühlte mich unwohl. Hierhin gehörte ich nicht.
Dann wurde ich aufgerufen und betrat das Sprechzimmer. Die Ärztin hatte ein fast ausdrucksloses Gesicht und wirkte sehr kühl und distanziert. Sie stellte mir ein paar Fragen zu körperlichen Einschränkungen, wie Blasenschwäche und Gehproblemen, die ich zum Glück alle nicht hatte. Dann schickte sie mich aus dem Zimmer, als ob ich ein unangenehmes Objekt wäre und sie furchtbar erleichtert sei, mich endlich los zu sein. Ich bekam einen neuen Termin von der Empfangsschwester, verließ die Praxis und war froh, erst in einigen Monaten wiederkommen zu müssen. Die folgenden Besuche verliefen ähnlich und ich atmete immer auf, wenn ich wieder gehen durfte.
Mein Onkel versicherte mir jedoch, dass sie eine exzellente Ärztin sei.
Die Diagnose
Ein Jahr war seit der Entzündung meines Sehnervs vergangen. Das Vergleichs-MRT stand an, wie damals nach Abschluss aller Untersuchungen an der Uniklinik Dresden vereinbart. Ich fühlte mich gut und machte mir keinerlei Sorgen wegen der Untersuchung. Stattdessen überlegte ich, wie ich an eine Wohnung käme, wenn ich die Zusage für das Pflichtpraktikum in München erhielt.
Gut gelaunt hüpfte ich auf die Liege. Anders als beim ersten Mal bekam ich Kopfhörer aufgesetzt. So lauschte ich entspannt klassischer Musik, während das MRT um mich herum hämmerte, piepte und ratterte. Nach circa 20 Minuten fuhr die Liege wieder aus der Röhre. Ich zog mich an und ging nochmal beim Radiologen vorbei, der ein guter Freund der Familie war.
Doch statt einer fröhlichen Begrüßung stand er mir gegenüber, schaute mich ernst an und sagte: »Nele, ich habe mir die Bilder gleich angesehen und leider keine guten Nachrichten für dich. Es sind neue Läsionen* sichtbar. Damit ist die Diagnose Multiple Sklerose sicher. Bei dieser Aktivität empfehle ich dir dringend, eine Basistherapie zu beginnen.«
Was? Wie? Das konnte nicht sein. Die Krankheit wurde letztes Jahr ausgeschlossen. Da musste ein Irrtum vorliegen. Meine Augen brannten. Kalter Schweiß brach aus und ich spürte, wie ich Panikflecken am Hals bekam.
Er betrachtete mich besorgt und fragte, ob es mir gut ginge.
»Nele, es tut mir leid. Aber ich wollte, dass du es lieber von jemand Vertrautem erfährst. Dein Neurologe wird es sicherlich nochmals genauer mit dir besprechen.«
Er sprach mir kurz Mut zu, bevor er die Bilder des nächsten Patienten auswerten musste.
Mir schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf: Konnte ich mein Studium beenden? Lohnte sich das überhaupt noch? Wie lange könnte ich noch Sport treiben? Was für eine Therapie musste ich jetzt machen? Meinte er Cortison? Davon hatte ich doch bereits nach sieben Tagen ein Vollmondgesicht bekommen. Sähe ich irgendwann so aus, wie die Patienten im Wartezimmer meiner Neurologin? Musste ich jetzt öfter zu ihr gehen? Wie lange konnte ich noch selbstbestimmt leben? Was für einen Job könnte ich mit der Krankheit noch ausüben? Wie konnte ich Multiple Sklerose haben, wenn ich mich gut fühlte und richtig sah? Das verstand ich nicht.
Ich blieb noch eine Weile in der Praxis, bis ich wieder in der Lage war Auto zu fahren. Schließlich dauerte die Fahrt zurück zum Haus meiner Eltern rund 40 Minuten.
Irgendwie kam ich zuhause an, auch wenn meine Wahrnehmung gedämpft war und ich mich immer wieder zusammenreißen musste, um auf den Verkehr zu achten.
Drei Tage später stand die