Anke Stelling

Grundlagenforschung


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genügte für die nächsten neun Monate.

      Und Heiner? Mal kurz ein paar Worte zu Heiner, damit du dir das Ganze besser vorstellen kannst: Heiner ist wahrhaft lässig. Ein Szene-Mensch, aber auf die angenehme Art. Begabt. Immer freundlich.

      Haarscharf ist er dran vorbeigeschrammt, so richtig berühmt zu werden – wäre er Brite, wäre er’s. Hätte er’s geschafft, sich auf eine Sache zu konzentrieren, wäre er’s auch. So ist er aus Hannover und macht alles gleichzeitig: singen, malen, Gitarre spielen, Bühnenbild, kurze Fernsehauftritte, Filmscripts, Plena organisieren, Häuser besetzen, Reden halten, kellnern, kochen, Leute zusammenbringen, Bücher schreiben.

      Jeder kennt ihn, und Heiner kennt sich aus. Claudia kann stolz sein, ihn abgekriegt zu haben, und gut aussehen tut er auch. Also, so mittel. Irgendwie britisch.

      Heiner ist keiner, mit dem das Familienleben vorgezeichnet erscheint. Keiner wie dein eigener Vater, obwohl du ehrlich gesagt auch keine Ahnung hast, was der für einer war. Der hatte nämlich auch nicht vor, so zu enden, wie du ihn jetzt enden siehst, aber egal. Heiner jedenfalls, um das noch mal zu betonen, ist echt lässig. Seine Kinder wachsen zwischen Gigs und HMI-Scheinwerfern und ausgeweideten Autowracks und weiblichen Fans mit riesigen Sonnenbrillen beziehungsweise Pressedamen und Kuratorinnen auf, die sie zu sich herzulocken versuchen, als seien sie Hundewelpen. Heiners Kinder sitzen bei ihm im Babybjörn vor dem Bauch, egal, was er gerade zu tun hat. Heiners Kinder fahren auf selbstgebastelten Laufrädern rum, nicht auf solchen von Puky. Wer wollte nicht Heiners Kind sein?

      Kein Grund also für Claudia, sich zu fürchten vor dem, was kommen sollte. Der Abschied von der Jugend, ganz klar, aber der stand ohnehin bevor. War in diesem Fall nicht gleichbedeutend mit dem Abschied von Spaß, Lässigkeit und gutem Aussehen. Im Gegenteil. Toll sah sie aus, mit der Kugel statt des Bauchs, und Heiner erst, wie er das Neugeborene lässig auf dem linken Unterarm ruhen ließ, während er mit der rechten Hand einer seiner zahlreichen Tätigkeiten nachging.

      Claudia ging zur Rückbildungsgymnastik.

      Becken heben, Beckenboden anspannen, absenken. Die Matten im Rückbildungskurs rochen, wie Turnmatten überall riechen: nach Schweiß. Die Hebamme gab sich alle Mühe und zündete ein Räucherstäbchen an; die Mitmütter, deren Familienleben vorgezeichnet schien, hatten die Babys dabei, welche brüllten. Keine redete mit Claudia.

      Müde war sie. Unsagbar müde.

      Der Weg zur Rückbildungsgymnastik war weit, eine Rückbildung nicht wirklich in Sicht. Becken heben, Beckenboden anspannen, nachlassen. Ohne Rückbildung kein guter Sex, so die Hebamme. Becken heben, anspannen. Die Mitmütter kicherten. Claudia schlief ein.

      Kann sein, dass es immer noch Eisenmangel war, Claudia brauchte Feldsalat, Feldsalat und Schlaf, Feldsalat und rote Bete. Feldsalat mit Kürbiskernen.

      Heiner wusch Feldsalat. Das war nichts, das man einhändig tun konnte, einhändig gewaschener Feldsalat knirscht zwischen den Zähnen, Heiner knirschte sowieso schon, trug beim Schlafen eine Knirschschiene. Keiner würde vermuten, dass Knirschschienen im Heinerschen Haushalt eine Rolle spielten, auch Claudia nicht – doch längst war die Knirschschiene zum Symbol geworden, teuflisches Zeichen, ob nachts noch was laufen würde. Denn wenn Heiner die Knirschschiene einsetzte, war Schicht. Licht aus. Ende. Heiner schlief –

      Claudia lag wach. Becken heben, Beckenboden anspannen, nachlassen. Entspann dich, Claudia! Es ist noch nicht aller Tage Abend, auch wenn er längst die Knirschschiene trägt.

      Der Zauber der Fortpflanzung half ihr durch den Alltag, und hatte sie es nicht selbst so gewollt? Leise, schnorchelnde Atemzüge. Und Feldsalat.

      Irgendwo in ihrem traumhaften Garten lauerte die alte Gotel und wollte Claudia das Kind wegnehmen, denn Claudia war hochmütig gewesen. Hatte geglaubt, dass bei ihr alles anders sein würde. Und Heiner hatte nicht widersprochen. Hatte Feldsalat aus Gotels Garten geholt – ein unheilvoller Akt. Claudia hatte auf ihn gebaut, wo sie doch misstrauisch hätte sein müssen, schließlich hatte er schon zwei Kinder und eine psychotische Ex noch dazu, hätte ihr das nicht eine Warnung sein sollen? Nein. Denn Claudia war selbst ganz anders.

      Apropos, wer ist eigentlich Claudia?

      Was die Liebe betrifft, hat sie vielleicht in den frühen Jahren ein bisschen Pech gehabt, aber mit Heiner dann eindeutig hochgeheiratet. Also Glück!

      Die Kuratorinnen und weiblichen Fans wunderten sich. Claudia? Ach so, ja. Arbeit war ihr Stichwort, sie hat immer viel gearbeitet. Einen IQ von erstaunlicher Zahl.

      Ach, weißt du was, der Einfachheit halber bin ich mal die Claudia. Mit mir kenn ich mich aus. Hab viel gearbeitet, irgendwas, das Heiner aufhorchen ließ. Blondes, schulterlanges Haar, durchdringende Stimme. Siebenunddreißigtausend Treffer bei Google! Wer würde da widerstehen können?

      Heiner hat gedacht, bei dem IQ würde aus mir bestimmt nicht noch eine psychotische Ex-Frau werden. Denn ich weiß, wie die Dinge laufen. Zum Beispiel bei Claudia! Natürlich hat sie sich verkalkuliert. Und aus Trotz dann trotzdem noch ein Zweites gekriegt. Diesmal ohne Pickel in der Schwangerschaft, ein Junge also.

      Ein Mädchen und ein Junge. Süß wie die Hundewelpen, ein bisschen dreckig – man soll sie bloß nicht zu viel waschen, die Käseschmiere einziehen lassen und dann nichts als den natürlichen Säureschutzmantel der Haut. Die alte Gotel nickte bestätigend und schwenkte ihren Zauberstab. Schutzmäntel und Schutzzonen waren ihr Spezialgebiet! Wehe dem, der eine solche betrat … Schmutzig blieben sie, die Kleinen, was nichts an ihrer Attraktivität änderte – hübsche, zum Stil der Eltern passende Accessoires. Die jeden Morgen um halb sechs Uhr aufstanden.

      Heiner war auf Tournee. Oder auf Tour. Unterwegs jedenfalls, knatternder Kleinbus – und eine Menge Essen & Trinken, wobei das in dem Fall gleichbedeutend war mit Trinken & Rauchen. Bei Claudia die psychotische Ex auf dem Anrufbeantworter: Wann kommt er wieder? Ja. Ganz genau. Das war ganz genau das, was Claudia auch wissen wollte. Morgens. Um halb sechs.

      Bis halb neun waren schon drei Stunden vergangen, Stunden, die in Claudias bisherigem Leben nicht vorgekommen waren und die sich hinzogen, als zählte ihr jemand die Sekunden einzeln auf. Das Kaffeehaus, wo sie ihren Kaffee trinken wollte, öffnete um zehn. Claudia ging nicht mehr hin, sie aß das, was die Kinder übrigließen – löchrige Eiswaffeln, abgeschnittene Brotrinden, das Braune der Banane. Wenn kein Mülleimer oder Papiertaschentuch zur Hand war, auch Ausgespucktes. Die Kinder waren Teil von ihr, also war das, was aus ihren Mündern kam, nicht unappetitlich, sondern lecker. Claudia leckte den Kindern die Gesichter sauber. Sie hatte enormen Appetit.

      Am Abend klingelte die Gotel. Ob Claudia vielleicht ein paar Kürbiskerne zur Hand habe, Kürbiskerne zum Anrösten, zum Anrichten der Kürbiscremesuppe? Sie erwarte nämlich Gäste.

      Nein, sagte Claudia und stellte sich schützend vor die Kinderzimmertür.

      Keine Angst, sagte die Gotel, ich nehm sie dir nicht weg. Ich hör dich gar zu gerne singen, den ganzen Tag im Turm, nur bei den hohen Tönen musst du noch üben, sonst kommt er nicht zurück, dein königlicher Kerl. Sprach’s und verschwand im Treppenhaus.

      Soviel zu Essen & Trinken. Beziehungsweise Trinken & Rauchen. Sobald die Kinder schliefen oder sich auch nur zehn Minuten am Stück mit sich selbst beschäftigten, musste Claudia sich eine anzünden. Um den Abstand zu sichern, die Erwachsenenwelt zu bewahren. Zwei Minuten Ruhe, zwanzig Züge Unabhängigkeit, Unverfügbarkeit, Selbstbestimmung. Warte, bis Mama die aufgeraucht hat! Die Zigarette gestattete es ihr stillzuhalten.

      Sie genoss die mahnenden Blicke der Mitmütter, deren Familienleben vorgezeichnet schien. Oh ja, sie war anders. War schlecht und schlampig. Keine Sandelförmchen im Gepäck! Zigaretten! Und der Kerl ein Tunichtgut, einer, dem man’s nicht ansah, dass er ein Ernährer war. Kein Kombi, ein Tourbus! Gut gemacht, Claudia!

      Röchelnder, rächender Raucherhusten. Die hohen Töne rückten in immer weitere Ferne, wurden ersetzt von schleimigem Auswurf. Die Kinder brachten seltene Grippeviren aus der Kita nach Hause, Claudia wurde krank. Vielleicht war’s auch weiterhin der Eisenmangel, Claudia aß Feldsalat, Feldsalat mit roten Beten, Feldsalat mit gerösteten Kürbiskernen, die sie der alten Gotel vorenthalten