habe.« Ihr Tonfall ließ eine Alarmglocke in Milans Kopf klingeln. Die Erinnerung an eine schrille Stimme. An unschöne Auseinandersetzungen, Eifersucht, Tränen. So etwas wollte er nicht erleben. Nicht schon wieder.
»Verlieb dich nicht in mich.« Er sagte es mit einem Lächeln.
Sie musterte ihn aus Augen, tief wie zwei Bergseen und genauso unergründlich. Plötzlich hustete sie.
Milan riss die Augen auf. Richtete sich auf.
»Bist du krank?«
»Was ist?« Der Zug um ihren Mund war spöttisch. »Hast du Angst, dass du Männergrippe bekommst? Unmöglich. Ich bin eine Frau.«
Wohl oder übel musste Milan lachen.
»Das habe ich gemerkt.«
Sie beugte sich über die Bettkante und angelte sich ihre Tasche. Kramte darin herum, bis sie eine kleine Dose fand. Die Tabletten darin klapperten, als sie sie öffnete und eine davon in die Hand fallen ließ.
»Hast du auch Durst?« Muriel schlug die Bettdecke zurück.
»Ein Glas Wasser wäre toll.«
»Kommt sofort.« So, wie Gott sie erschaffen hatte, schlenderte Muriel durch das Zimmer, sich der Blicke in ihrem Rücken wohl bewusst.
Milan konnte nicht anders. Er musste ihr einfach nachsehen. Konnte die Augen nicht von ihrem Anblick lösen, bis sie aus dem Zimmer verschwunden war. Wieder dieses Husten. Gleich darauf hantierte sie in der Küche. Er sah sie vor sich, wie sie auf der Suche nach Gläsern jeden Schrank öffnete. Er sah ihren Künstlerhänden dabei zu, wie sie den Wasserhahn öffneten und wieder schlossen. Gleich würde sie wieder in der Tür erscheinen und ihn mit ihrem Anblick verzaubern.
Ein Poltern, gefolgt von einem Schrei und dem Klirren von Glas zerriss das schöne Bild. Milan fuhr hoch.
»Muriel!«
Keine Antwort.
»Muriel!«
Wieder nichts. Mit angehaltenem Atem wartete er ab. Doch es war wie verhext. Kein Laut drang mehr an sein Ohr. Alles war still. Viel zu still. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die Beine aus dem Bett zu schwingen. Er zog den Rollstuhl zu sich, hievte den leblosen Unterbau hinein. Mit wenigen, kräftigen Handgriffen erreichte er die Tür. Er sah Muriel schon von Weitem. Sie lag bäuchlings auf dem Boden, das lange Haar umfloss ihren Kopf. Sie bewegte sich nicht.
*
Bis die Ergebnisse der Serologie vorlagen, gesellte sich Matthias Weigand zu seiner Kollegin Maria Maurer. Sie saß im Aufenthaltsraum an einem der Tische und blätterte in einer Frauenzeitschrift. Er ließ sich auf die mintgrüne Couch fallen. In der Mitte des Couchtisches thronte die 500-Gramm-Gebäckmischung eines unbekannten Herstellers. Einem Gerücht zufolge bestellte Dieter Fuchs – Verwaltungsdirektor der Behnisch-Klinik – diese Kekse für alle Abteilungen. Er bezahlte sie aus dem Budget für Verbrauchsmaterial, genau wie Seife, Papiertücher und Verbandmaterial. So schmeckten sie auch. »Fuchs könnte uns genausogut ein paar Kartons hinstellen. Das würde auch nicht weiter auffallen«, schimpfte er mit einem Mund voll Brösel.
Maria sah kurz hoch.
»Du könntest es mit Marmelade probieren. Ich habe welche mitgebracht.« Sie deutete auf das Glas, das vor ihr auf dem Tisch stand. »Aprikose. Selbstgekocht von meiner Oma.«
»Großartig. Ich liebe selbstgekochte Marmelade.« Matthias stemmte sich von der Couch hoch und wollte zur Tat schreiten, als der Pieper seinen Plan zunichtemachte. »Bleib sitzen. Ich gehe schon!« Er gab Maria ein Zeichen und machte sich auf den Weg.
Noch bevor er um die Ecke bog, hörte er es. Das war Sophies Stimme, die über den Flur hallte. Unverkennbar! Lea!, war sein erster Gedanke. Sein Herz setzte einen Schlag aus, um mit doppelter Geschwindigkeit wieder einzusetzen. Er fing an zu laufen.
»Um Gottes willen, Sophie. Was ist passiert?«
Sophie fuhr herum. Seit dem finalen Streit hatte sie Matthias nicht wiedergesehen. Doch sein Zauber wirkte immer noch. Ein Blick in sein Gesicht genügte, um ihre Knie in Pudding zu verwandeln.
»Nina.« Mit zitterndem Finger deutete sie auf ihre Freundin, die ein Rettungsfahrer hereinschob. Diesmal war es nicht Erwin Huber. »Sie ist einfach umgefallen. In meiner Wohnung. Und das Regal oben drauf.«
Matthias Weigand atmete tief durch. Er straffte die Schultern und konzentrierte sich auf die Patientin. Nahm das Klemmbrett mit den nötigen Informationen vom Kollegen in Empfang.
»Hallo, Nina! Ich wusste ja gar nicht, dass du im Lande bist.« Nebenbei überflog er die Angaben.
»Das ist schon mein dritter Abend und ich dachte, wir sollten uns mal wiedersehen.« Nina versuchte ein Lächeln.»Aber keine Angst. Es war nur ein schmales Regal.«
Matthias sah sie an.
»Du meinst das in der Küche? Das hat mich auch die ganze Zeit gestört.« Ein Blick hinüber zu Sophie.
»Was denn?«, begehrte die sofort auf. »Bin ich jetzt etwa wieder Schuld?« Als sie seinen Blick bemerkte, bereute sie ihre Worte sofort. Was war nur los mit ihr? Warum verstand sie ihn immer falsch?
Innerlich schüttelte Matthias den Kopf. Nein, die Trennung war kein Fehler gewesen. Es hatte sich nichts geändert. Aber was war das? Darüber dachte er auf dem Weg ins Behandlungszimmer nach.
»Tut mir leid. Das ist alles ein bisschen viel zur Zeit.« Sophies Stimme übertönte das Klappern der Transportliege. Matthias traute seinen Ohren kaum. Sie hatte sich tatsächlich entschuldigt!
»Schon gut.« Er lächelte. »Wo ist eigentlich Lea?«
Seine Sorge rührte Sophie.
»In ihrem Bett. Die Nachbarin hat das Babyfon übernommen.«
»Gut.« Sie hatten den Behandlungsraum erreicht. Matthias sah sich nach den Kollegen um. »Auf drei. Eins, zwei, drei.« Mit vereinten Kräften hoben sie Nina auf die Liege. Sie verzog das Gesicht. Ein leises Stöhnen entwich ihren Lippen.
»Keine Sorge. Bei Matthias bist du in den besten Händen«, entfuhr es Sophie. Als sie gewahr wurde, was sie da gerade gesagt hatte, biss sie sich auf die Unterlippe und senkte die Augen.
Nina lächelte ihre Schmerzen weg.
»Nichts anderes habe ich erwartet.«
»Darf ich Hand anlegen?«, fragte Matthias und schritt zur Tat, ohne eine Antwort abzuwarten. Er betastete Ninas Schulter. Sie verzog das Gesicht. Stöhnte erneut leise. Matthias nickte. »Die Schulter ist ausgekugelt. Das ist schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Um das wieder in Ordnung zu bringen, bekommst du eine kleine Narkose.« Er machte eine Notiz auf dem Formular, das auf dem Klemmbrett befestigt war. »Natürlich nur, wenn du einverstanden bist.«
»Ich würde dich verfluchen, wenn du das ohne Betäubung tun wolltest.«
Matthias Weigand sah schnell hinüber zu Sophie und wieder zurück.
»Verfluchen tust du mich wahrscheinlich auch so schon«, murmelte er und räusperte sich. »Um sicherzugehen, dass die Schulter nicht auch noch gebrochen ist, wird dich Schwester Irina vorher noch zum Röntgen bringen.«
»Aye, aye, Captain.« Nina zwinkerte ihm zu zum Zeichen, dass sie ihm wohlgesonnen war. Egal, was er dachte.
Doch da war Matthias schon auf dem Sprung zum nächsten Patienten. Dr. Grubers Konterfei leuchtete auf dem Display seines Handys auf.
*
»Botulinum Toxin Typ A«, teilte Benjamin dem Notarzt mit. Sein Atem keuchte im Apparat.
»Sehr gute Arbeit, Gruber. Ich erwarte Sie in drei Minuten bei der Patientin. Mit dem Anti-Serum, versteht sich.« Dr. Weigand legte auf und ließ das Mobiltelefon wieder in der Kitteltasche verschwinden.
Die Sohlen seiner Schuhe knirschten leise auf dem Boden. Langsam beruhigte sich sein törichtes Herz. Dafür begann sich das Gedankenkarussell aufs Neue zu drehen.