Regina Mars

Das Monster im 5. Stock


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ein Seufzen und zuckte männlich mit den Achseln. »Na dann …«

      Innerlich weinte er. Aber das konnte er sich nicht anmerken lassen. Die restlichen Finanzbuchhalter, oder eher Finanzbuchhalterinnen, behandelten ihn sowieso schon wie einen kleinen Bruder. Einen leicht verblödeten kleinen Bruder. Er war der einzige Mann in der Abteilung, und mit seinen dreiundzwanzig Jahren maximal halb so alt wie die anderen. Ernst genommen zu werden war ein Ding der Unmöglichkeit.

      »Ach, Blondchen.« Noch ein Haarwuscheln, dann ging Vroni endlich weiter. »Nicht traurig sein. Das wird schon irgendwann.«

      »Kein Problem«, wiederholte er. »Ich hab ja noch ein paar Wochen.« Genau in diesem Moment stieß sein Fuß gegen den Rucksack unter seinem Schreibtisch. Heute Morgen war er extra als Erster gekommen, damit niemand das Ding sah. Damit niemand ahnte, dass er ab sofort obdachlos war. Klar, er hätte Jutta oder Vroni (oder Adelheid oder Rita oder Gitte oder Susanne) fragen können, ob er ein, zwei Wochen auf ihrem Sofa pennen konnte. Aber dann wäre er nie aus der Verblödeter-Kleiner-Bruder-Nummer rausgekommen. Daran hätten sie ihn noch erinnert, wenn er in 40 Jahren die Firma verlassen hätte, mit Buckel, Arthritis und goldener Uhr. Obwohl, dann wäre Vroni ja schon fast hundert … Nicht, dass sie sich davon abhalten lassen würde, vorbeizukommen, ihm über die Glatze zu rubbeln und ihn Blondchen zu nennen.

      Wastl sah ihrem hennaroten Schopf und ihrem weinroten Strickpulli nach und seufzte.

      Arbeite, Junge, dachte er. Heulen kannst du nachher. Wenn du unter dem Schreibtisch pennst.

      Obwohl, der Teppich im Meetingraum wirkte so schön weich. Das war bestimmt die bessere Wahl.

      Den ganzen Nachmittag über hoffte er auf ein Wunder. Eine Mail. Einen Anruf von einer der 36 Hausverwaltungen, deren Antwort noch ausstand. Es kamen drei Absagen. Bei jeder Mail hielt er den Atem an, nur um einen Mund voll Enttäuschung zu kassieren. Egal. Das würde werden. Irgendwie.

      Der Siebermann-Verlag, sein neuer Arbeitgeber, war von mittlerer Größe. Zwei Stockwerke des altehrwürdigen Barockgebäudes nahm er ein. So altehrwürdig, dass es immer ein wenig nach Staub und altem Bohnerwachs roch.

      Überstunden waren die Ausnahme und so leerte sich das Büro schon gegen fünf. Immer mehr Deckenlampen gingen aus. Wastl konnte durch die Glaswand ihres Büros sehen, wie es allmählich dunkel wurde. Vor den Fenstern war längst alles Licht verschwunden. Nur die Weihnachtsdeko des Büros gegenüber blinkte und glitzerte aggressiv. Es war viel zu früh für die rot-grüne Pracht. Sie hatten doch erst November. Ein dickbackiger Weihnachtsmann grinste ihm zu und erinnerte ihn daran, dass dies das erste Weihnachten ohne Mama sein würde. Er schluckte.

      Nein. Verzweifeln ist für Feiglinge, das hatte seine Mutter ihm eingebläut. Er würde sich nicht davon verrückt machen lassen, dass er Weihnachten ganz alleine unter einer Brücke verbringen würde … Er schüttelte sich.

      »Alles wird gut«, flüsterte er, obwohl er längst der Letzte in der Abteilung war. »Du packst das. Der Kullberger Wastl lässt sich nicht unterkriegen. Merkt euch das, ihr Großstädter.«

      ***

      Der Teppichboden im Meetingraum roch nach Zitronen-Lufterfrischer und Gummisohlen. Wastl streckte sich darauf aus. Die Tasse Früchtetee aus der Küche stellte er auf seinem Bauch ab. Sie wärmte fast so gut wie eine Bettdecke. Zumindest, wenn man sich das ganz fest einbildete. Und die verstaubten Kekse, die in einer Schale auf dem Tisch standen, waren beinahe ein vollwertiges Abendessen, also, auf jeden Fall waren sie gratis und er war pleite.

      Gute Nacht, dachte er. Morgen wird alles besser.

      Der Duft des Früchtetees vermischte sich mit dem Bürogeruch nach Plastikvorhängen und verbrauchter Luft. Das Summen aus dem Serverraum nebenan klang wie rauschender Wind. Fast war es ein wenig heimelig. Fast. Wehmütig trank Wastl den Tee und machte die letzte Deckenlampe aus. Obwohl er todmüde war, schlief er lange nicht ein.

      ***

      Das Licht flackerte und stach in seine Pupillen wie Glassplitter. Wastl fuhr hoch.

      »Wos …« , begann er, dann sah er die Frau in der Tür. Ihre braunen Augen starrten ihn an. Sie war mager, trug ein schillernd grünes Kopftuch und wirkte einen Moment lang genau so erschrocken wie er. Dann verdüsterte sich ihr eichenholzfarbenes Gesicht.

      »Wos machst du denn do?«, herrschte sie ihn an. »Du kannst doch do ned penna, du Oarschwichtl!«

      Wastl starrte sie an. »Entschuidigung, i dochte …« Dann erinnerte er sich daran, dass die Vroni ihn ermahnt hatte, hochdeutsch zu sprechen, solange er in der Firma war. Ach ja, und er erinnerte sich daran, dass sie irgendwas von der nächtlichen Putztruppe erwähnt hatte, und dass die nie richtig saubermachten. Daran hätte er wirklich denken können.

      »Entschuldigung«, begann er erneut. »Ich dachte, es wäre nachts keiner da. Sehen Sie, ich habe meine Wohnung verloren und ich wusst nicht, wo ich schlafen soll, da dachte ich, es merkt keiner, wenn ich ein, zwei Nächte hier …«

      »Arbeidest du hier?« Sie verschränkte die Arme vor der schmalen Brust.

      »Ja«, sagte er wahrheitsgemäß und hoffte, dass das morgen auch noch stimmen würde. »Es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe. Es ist nur … Ich weiß nicht, wohin.«

      Sie schwieg. In der Gesprächspause konnte Wastl neue Geräusche ausmachen. Eine Maschine brummte. Ein Staubsauger? Hinter der Frau musste noch jemand damit beschäftigt sein, die Räume sauberzumachen.

      »Armer Kleiner. Aber hier kannst nicht bleiben, die Chefin kommt gleich.« Sie schüttelte den Kopf. Wastl wollte gerade klarstellen, dass er nicht klein und … na gut, arm war er, doch er hatte langsam genug davon, dass jede mittelalte Frau ihn wie einen Adoptivwelpen behandelte. Da sprach sie die magischen Worte aus: »I weiß, wo du hinkannst.«

      »Was, haben Sie eine Wohnung, die leer ist? Oder wissen sie von …«

      »Nah, heute Nacht. I putz gleich oben, da steht ein Sofa. Wenn du magst, kannst darauf pennen.«

      »Oh, danke.« Er lächelte. Wie nett von ihr.

      ***

      Wie sich herausstellte, war »Wohnung« das falsche Wort für den dekadenten Palast, der ihn oben erwartete. Das Luxusappartement war so groß wie das halbe Büro. Genau so groß wie das halbe Büro. Die Grundrisse entsprachen sich, und er konnte die Ecke sehen, in der zwei Stockwerke tiefer sein Schreibtisch stand. Hier war sie leer. Hellgoldenes Holzparkett erstreckte sich über eine Fläche, auf der nur verstreute Designermöbel standen. Sowas hatte er höchstens mal in Mamas Zeitschriften gesehen. Ganz weit hinten in der gebohnerten Wüste erspähte er eine nagelneue Küche. Er sah eine Theke, um die herum Barhocker standen, eine freischwebende Abzugshaube und polierte Stahlpfannen an der schwarz gekachelten Wand. Poliert wurden sie von Amira, wie sie sich vorstellte.

      »Da kannst pennen.« Sie deutete auf ein reinweißes Sofa, das Wastl eine Heidenangst einjagte.

      »Was, wenn ich das dreckig mache?«, flüsterte er. Diese Räume waren ihm nicht ganz geheuer. Selbst im Licht der vermutlich teuren Lampe (sie bestand aus Hunderten winziger Glaskugeln) strahlten sie etwas Düsteres aus. Kein Wunder, die Wände waren dunkelgrau. Wastl fragte sich, wohin die Türen links von ihm führten.

      »Wenns das Sofa dreckig machst, erschlog ich dich mit dem Wischmopp«, knurrte Amira. »Und jetzt leg dich ab. Siehst schon ganz fertig aus, Kleiner.«

      »Ich kann dir beim Putzen helfen.«

      Sie schnaubte. »Im Weg stehen kannst du.«

      Auf dem Weg hoch hatte sie erzählt, dass sie bis vor kurzem in einer Flüchtlingsunterkunft nahe der bayerischen Alpen untergebracht gewesen war. Von den Einheimischen hatte sie sowohl bayerische Mundart als auch Höflichkeit gelernt.

      »Wer wohnt denn hier?«, fragte er und sah aus den bodenlangen Fenstern. Beziehungsweise: Sah sich selbst in der Spiegelung, vor nachtschwarzem Himmel. Er war eindeutig das billigste Objekt in der Wohnung. Die Hausdächer auf der anderen Straßenseite