wägt am Beispiel des Planeten Urras und seines Trabanten Anarres die politischen Systeme Kapitalismus und Anarchismus gegeneinander ab. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern spielen hier nur eine untergeordnete Rolle insofern, als man sich im anarchistischen System von Anarres sehr viel mehr um die Gleichstellung der Frau bemüht als in dem des kapitalistischen und deutlich patriarchalischen Staates A-Jo, einer der beiden Supermächte des Planeten Urras.
Der Roman erlangte weit über die Grenzen der Science Fiction hinaus Berühmtheit, und viele Kritiker haben Le Guin vorgeworfen, dass sie danach keinen weiteren so kühnen utopischen Entwurf mehr vorgelegt hat. Diese teils recht schroff formulierte Kritik greift indessen zu kurz und zeugt im günstigsten Fall von einer unzureichenden Beschäftigung mit dem späteren Werk der Autorin. Dass sie keinen weiteren derart gewichtigen Science-Fiction-Roman mehr veröffentlicht hat, mag man so sehen, obwohl spätere Romane wie das sehr umfangreiche Always Coming Home (1985) oder The Telling (2000) durchaus lesenswert sind. Unberücksichtigt bleibt bei dieser Kritik aber das umfangreiche Kurzgeschichtenwerk, das die Autorin danach vorgelegt hat.
Le Guin gab ihrem Roman The Dispossessed den Untertitel »An Ambigous Utopia«, was man mit »eine ambivalente« oder »eine fragwürdige« Utopie eindeutschen könnte. Man kann diesen Untertitel einerseits auf den Inhalt des Romans beziehen, denn obwohl die Verfasserin das anarchistische System favorisiert (das bei ihr allerdings einige durchaus verklärende romantische Züge trägt), äußert sie Bedenken an der realen Umsetzung beider Systeme, die in der Theorie gut und schön sein mögen, in der Praxis jedoch nicht immer funktionieren. (Diese Zweifel, als kurze Abschweifung, kannten die klassischen utopischen Entwürfe wie etwa Thomas Morus’ Utopia oder Campanallas Civitas Solis nicht – für deren Verfasser waren die von ihnen entworfenen Staatengebilde stets das von allen anerkannte Ideal; erst H. G. Wells trug 1905 in seinem Buch A Modern Utopia, einer Mischung aus essayistischer Abhandlung und romanhafter Spielhandlung, der Tatsache Rechnung, dass es in jedem politischen System, ganz gleich, wie ideal es in der Theorie entworfen wurde, Zweifler und Gegner nicht nur geben wird, sondern zwangsläufig geben muss). Letztendlich mögen Le Guins Zweifel aber auch aus der Erkenntnis herrühren, dass – wie in der Realität des Planeten Erde zu sehen – »ideale« politische Systeme auf gesellschaftlicher Ebene in der Praxis nur schwer zu realisieren sind.
Stattdessen legte Ursula K. Le Guin nach The Dispossessed, wie schon erwähnt, ein umfangreiches Kurzgeschichtenwerk vor, und in diesen Geschichten erforschte sie viele kleine, private Mikrokosmen, wie etwa in »Unchosen Love« (1994), worin eine Ehe zwischen vier Personen geschildert wird, oder »Solitude« (1994) über eine Gemeinschaft, in der Männer und Frauen streng getrennt leben. In »Mountain Ways« (1996) kehrt die Autorin an den Schauplatz von »Unchosen Love« zurück, den Planeten O; in dieser Story können zwei Frauen, die sich lieben, erst eine Viererehe eingehen, als eine sich als Mann verkleidet – vielleicht auch ein Kommentar zu Scheinheiligkeit und Doppelmoral, die auch in unserer vorgeblich so »aufgeklärten« Gesellschaft heute noch existieren. Alle drei Geschichten finden sich übrigens in dem Sammelband The Birthday of the World and Other Stories (2002).
Gerade in diesen späteren Kurzgeschichten sehen wir die Autorin, allen kritischen Stimmen zum Trotz, in Bestform. Sie präsentiert eine Vielzahl möglicher Zukunftsentwürfe, die zeigen, dass die Vielfalt menschlichen (Zusammen)Lebens keine Grenzen kennt … und die große, ersehnte gesellschaftliche Utopie eines friedlichen Zusammenlebens gleich welcher Hautfarbe oder sexuellen Orientierung erst dann – und nur dann – möglich sein wird, wenn jeder Einzelne seine eigene, private Utopie lebt und andere leben lässt.
Der Sänger Udo Lindenberg übrigens, sah sich – abschließend – schon deutlich früher veranlasst, einen Kommentar zu den sozialen, politischen und vor allem sexuellen Umwälzungen der Zeit abzugeben – im Gegensatz zu seinem Kollegen Grönemeyer allerdings deutlich entspannter. Er nahm keinen Anstoß an David Bowie, »der seinen Gitarristen auf der Bühne küsst«, sondern quittierte die neue sexuelle Freizügigkeit mit einem lapidaren »ist doch ganz egal, ob du ’n Junge oder ’n Mädchen bist.«
Anmerkungen
[1] Charles Fourier: Die Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen (Théorie des quatre Mouvements), Deutsch von Gertrud von Holzhausen, Wien/Frankfurt am Main 1966, Europäische Verlagsanstalt (S. 190)
[2] Dietmar Dath: Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine, Berlin 2019, Matthes & Seitz Verlag (S. 444)
[3] Ursula K. Le Guin: »Is Gender Necessary?«, in: Dancing at the Edge of the World, Thoughts on Words, Women, Places, New York 1989, Grove Press (S. 16)
[4] Ebenda (S. 8)
[1] Ist das Buch eine Utopie? Das ist es ganz unverkennbar nicht; es bietet keine praktische Alternative zur gegenwärtigen Gesellschaft.
[2] Um 1967 verspürte ich ein gewisses Unbehagen […] Ich wollte die Bedeutung von Sexualität und die Bedeutung Geschlecht in meinem Leben und in unserer Gesellschaft definieren und begreifen. Ich glaube, dasselbe Bedürfnis veranlasste Beauvoir Das andere Geschlecht und Friedan Der Weiblichkeitswahn zu schreiben, und es brachte gleichzeitig Kate Millett und andere dazu, ihre Bücher zu schreiben und den neuen Feminismus zu begründen. Aber ich war keine Theoretikerin, keine politische Denkerin oder Aktivistin, keine Soziologin. Ich war und bin Verfasserin von Literatur. Und so drückte ich meine Gedanken in einem Roman aus.«
Aşkın-Hayat Doğan
Muslimische Figuren in Mainstream Science Fiction?
Vor ein paar Jahren machte ein »lustiges Bild« in den sozialen Medien und WhatsApp-Gruppen die Runde: Eine weiße, gutbürgerliche Kernfamilie, wahrscheinlich aus den 50ern, sitzt am Esstisch. Die Mutter bringt gerade lächelnd das Tablett mit Rostbraten an den Tisch, während der Sohn und die Tochter mit glücklichem Gesichtsausdruck neben dem amüsierten Vater in Anzug und Krawatte am Tisch sitzen. Diese Idylle in Schwarz-Weiß – anscheinend ein altes Werbefoto für irgendwas ganz anderes – wird mit zwei Sprechblasen ergänzt:
Sohn: »Dad why are there no muslims in Star Trek?«
Vater: »Because it’s the future son.«
Hier wird eine Frage aufgegriffen, die ich mir seit meinen Teenagerjahren in den 90ern selbst gestellt habe: Wie kommt es, dass muslimische oder muslimisch gelesene Figuren gar nicht bis sehr selten in den Mainstreamprodukten der westlichen Welt, sprich der USA und Europas, vorkommen? Wenn ich im nicht muslimischen und fast ausschließlich weißen Kolleg*innen und Freund*innenkreis frage, die sich in einem großen Spektrum professionell bis hobbymäßig mit Science Fiction und Fantasy beschäftigen, werden nach kurzem Nachdenken zwei Namen genannt: Bashir aus STAR TREK: DEEP SPACE NINE und Avasarala aus THE EXPANSE – meist noch gefolgt von einem zögerlichen »Vielleicht noch Khan?«.
Ist das so?
Doktor Julian Subatoi Bashir ist Chefarzt auf der Raumstation Deep Space 9 aus der gleichnamigen STAR TREK-Serie, die von 1993 bis 1999 ausgestrahlt wurde und im 24. Jahrhundert des STAR TREK-Universums stattfindet. Verkörpert wird die Figur vom sudanesischbritischen Schauspieler Alexander Siddig und Bashirs vermeintlicher Glaube oder eine Religionszugehörigkeit innerhalb der Serie wird nie thematisiert oder offengelegt. Hierbei ist zu erwähnen, dass es vor Serienbeginn kein Charakterkonzept für Bashir gab und erst beim Casting von Siddig, der ursprünglich für die Rolle des Captains Sisko vorgesehen war, anschließend die Rolle des angedachten Doktors von Julian Amoros zu Julian Bashir geändert wurde.
Chrisjen Avasarala ist die stellvertretende UN-Untersekretärin der Exekutivverwaltung der Erde in der Science-Fiction-Romanreihe THE EXPANSE, die im 24. Jahrhundert unserer Zeit spielt und vom Autorenduo James S. A. Corey erschaffen wurde. Avasarala ist eine indische Frau jenseits der 60 mit tiefer politischer Raffinesse, die in der gleichnamigen Serie THE EXPANSE von der iranisch-amerikanischen Schauspielerin Shohreh Aghdashloo gespielt wird. Laut den Büchern ist Avasarala Buddhistin.
Khan