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Das Science Fiction Jahr 2020


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von der männlichen und weiblichen Form »mitgemeint« sind, aussprechen. Dass diese Formen der Aussprache und des Ausschreibens das althergebrachte Machtgefüge stören, ist an den zahlreichen Formen des Widerstands gegen solche Bemühungen in deutscher Sprache und Schrift zu spüren.

      Die Science Fiction der Sprache

      Das Englische bietet mehr Möglichkeiten, geschlechtergerecht zu formulieren. Beispielsweise ist Kameron Hurleys The Light Brigade konsequent so formuliert, dass das Geschlecht der ich-erzählenden Hauptfigur Dietz nicht deutlich wird. (Ein Clou, der in einer deutschsprachigen Übersetzung spätestens bei Anreden wie »Soldier!« schwierig würde, ich wäre gespannt darauf, wie es umgesetzt wird.)

      Aber nur, weil es schwerer ist, heißt das nicht, dass wir nicht im Deutschen umso phantasievoller sein können. Ja, bitte auch in der Literatur, der Prosa, auch in der Science Fiction. Kreative Sprache ist nicht lästig, sondern hat spekulatives Potenzial! Das generische Femininum in Ann Leckies Die Maschinen ist in der deutschen Übersetzung sehr viel prominenter als im Englischen und wirkt sich auch anders auf die Rezeption des Buchs aus. Selbst hintergründige geschlechtergerechte Sprache wie in meinem und Christian Vogts Wasteland ruft die Verteidiger*innen einer unveränderbaren deutschen Sprache auf den Plan. Geschlechtergerechtigkeit, die über das großzügige Mitnennen der weiblichen Form hinausgeht, rüttelt am Machtgefüge einer streng binär geteilten Welt. Und deshalb ist sie so wichtig.

      Romane bilden mit ihrer beschreibenden Sprache einen wichtigen Startpunkt für menschliche nichtbinäre Repräsentation. Während in visuellen Medien wie Filmen und Serien das Vorhandensein und die Darstellung von nichtbinären Charakteren meist auf sichtbare »Androgynität« beschränkt sind, bieten Romantexte weit mehr Möglichkeiten, Figuren jenseits des binären Gefüges vielfältig darzustellen und sogar die Körperlichkeit als optische Kategorie zu umgehen.

      Die Genderqueerness der Zukunft

      Trotz alledem wird nach wie vor in den meisten Geschichten und, ja, auch den meisten Science-Fiction-Geschichten die Menschheit als aus Männern und Frauen bestehend beschrieben. Es gibt nur eine Handvoll SF, die gute nichtbinäre Repräsentation bietet, und das meiste davon ist nur auf Englisch erschienen. Erfreulich häufig tauchen sie in den letzten Jahren als Nebencharaktere auf, wie in Charlie Jane Anders’ Alle Vögel unter dem Himmel oder in Annette Juretzkis STERNENBRAND-Dilogie Blind und Blau. Ich habe ein paar Beispiele zu Science Fiction mit nichtbinären Hauptfiguren gesammelt, manche davon sind auch im Grenzbereich zwischen Fantasy und SF angesiedelt.

      JY Yangs The Black Tides of Heaven schildert eine »Silkpunk«-Fantasywelt, in der sich Spiritualität und Technik ergänzen. Die Zwillinge Mokoya und Akeha müssen sich in den politischen Wirrungen ihrer Welt und besonders denen ihrer Mutter zurechtfinden. In dieser Welt wird bei der Geburt kein Geschlecht zugewiesen, sodass alle Kinder später selbst äußern können, wie sie sich identifizieren. Akeha fühlt sich lange wohl mit der nichtbinären Identität der Kindheit. Der Wermutstropfen: Kein Charakter behält das nichtbinäre Geschlecht das ganze Buch hindurch.

      Ich vergleiche ungern Autor*innen mit bereits toten Autor*innen, aber ich halte es für gut möglich, dass Kameron Hurley das für unsere SF-Ära darstellt, was Joanna Russ für die 1970er bedeutete. Die Autorin, die auch in The Geek Feminist Revolution über Geschlechterrollen, Science Fiction und Gesellschaft und auch eigene Selbstzweifel und Selbstfindung in einer heteronormativen Welt spricht, stellt in ihren Romanen und Kurzgeschichten immer wieder Geschlecht und die Art und Weise, wie wir darüber sprechen und denken, infrage. In ihrem The Mirror Empire entwirft Kameron Hurley eine Fantasywelt, in die durch interdimensionale Storyelemente auch Science Fiction hineinspielt. In dieser Welt prallen die Definitionen von Ethnie und Geschlecht verschiedener Gesellschaftsformen aufeinander. Eine der Hauptfiguren, Taigan, ist genderfluid und benutzt insgesamt drei verschiedene Pronomen (she/her, he/his und ze/hir). Viele Kulturen in ihrem Roman kennen drei oder mehr Geschlechter und nutzen Neopronomen selbstverständlich und in einem sich natürlich anfühlenden Sprachfluss. Menschen einfach ein Geschlecht zuzuweisen und ihnen damit die Möglichkeit zu nehmen, sich selbst zu definieren, ist in den meisten dieser Gesellschaftsformen verachtenswert. Auch Nebenfiguren in The Mirror Empire sind nichtbinär, wodurch der Roman eine große Varianz von nichtbinärer Identität zeigt und nicht in die Falle der stereotypen Darstellung tappt.

      James Alan Gardners All Those Explosions Are Someone Else’s Fault ist eine Superheld*innen-Story, bei der die ich-erzählende Hauptfigur weiblich gelesen aufwuchs und sich immer mehr mit einer nichtbinären Identität wohlzufühlen beginnt, bis ihre Superheld*innenpersona schlussendlich offen nichtbinär ist. Gardner schrieb außerdem Commitment Hour über eine kleine Gemeinschaft, in der Kinder zwischen männlich und weiblich wechseln, bis sie sich im Erwachsenenalter für einen »Pol« entscheiden. Es wird recht früh auch ein nichtbinärer Charakter eingeführt, und Nichtbinärität erweist sich als relevant für die Handlung.

      Wie JY Yang ist auch Rivers Solomon nichtbinär. Solomons Roman An Unkindness of Ghosts zollt Octavia Butlers LILITH’S BROOD Tribut: 325 Jahre lang reist die H. S. S. Matilda durchs All. Die Arbeiter*innen an Bord (größtenteils People of Color) sind unzureichend gegen die kosmische Strahlung abgeschirmt, sodass sich ihr Erbgut verändert. Sie entwickeln dadurch eine größere Geschlechtervarianz, als die weiße Oberschicht an Bord überhaupt erfassen kann. Auch Hauptperson Aster ist nichtbinär und geht den Geheimnissen des Schiffs mit dem Tagebuch der Mutter auf den Grund.

      Lizard Radio von Pat Schmatz schildert ein genderqueeres Teenagerleben in einer dystopischen Zukunft. Das Findelkind Kivali gerät in die Mühlen eines Indoktrinationscamps der Regierung. Im Roman geht es auch um den gesellschaftlichen Druck, sich durch Äußerlichkeiten an ein binäres Geschlecht anzupassen.

      KJ Charles thematisiert Genderfluidität im Science-Fiction-Grenzfall der Steampunk-Romance (zum Beispiel in An Unsuitable Heir).

      Und zuletzt sei hier noch Tilly Waldens sehr schöne SF-Graphic Novel On a Sunbeam genannt, in der eine queere Familie in einem Raumschiff unterwegs ist. Die Geschichte thematisiert Nichtbinärität als einen Aspekt von Queerness, dreht sich um Zeit, Liebe, sexuelle Orientierung und Familie ohne Blutsbande.

      Nichtbinäre Science-Fiction-Autor*innen

      Gute Repräsentation steht und fällt mit den Menschen, die sie schreiben. Das Schreiben ist an sich immer ein politischer Akt, denn Schreibende erschaffen fiktive Wirklichkeiten, die Aussagen über die Realität treffen. Daher ist kein Text je neutral und ohne »Agenda«.

      Jeder Science-Fiction-Roman, der eine zukünftige Gesellschaft mit binären Geschlechterrollen schildert, zementiert die gerade existenten binären Geschlechterrollen. Oft reproduzieren wir den Status quo natürlich unbewusst – er hat ja uns alle unser ganzes bisheriges Leben hindurch begleitet und lag den meisten Geschichten inne, die wir erzählt bekommen haben. Umso wichtiger ist es, sich umsehen zu lernen. Was gibt es außerhalb des Bekannten? Was gehörte bisher »outside belonging«?

      Geschlecht und Identität sind ein vielschichtiges und vielfältiges Thema. Es gibt nicht das »dritte« Geschlecht, und es gibt nicht die eine korrekte Beschreibung, die ich dann als Autor*in von der Checkliste streichen kann. Um darüber zu sprechen und zu schreiben, was Geschlechtervielfalt in der Science Fiction bedeutet, müssen wir das Wort auch den Autor*innen überlassen, die selbst nichtbinär sind. Das ist nicht immer ganz einfach. Wie weiter oben bereits erwähnt, ist das oft keine Identität, über die sich eine Person bereits ihr ganzes Leben im Klaren ist. Viele haben dieses Vokabular erst in den letzten Jahren, seit das Thema etwas populärer geworden ist, erhalten. Viele haben bereits unter einem Namen veröffentlicht, der allgemein einem Geschlecht zugeordnet wird, und behalten diesen Namen auch weiterhin – oder andersherum: wählen einen neutral klingenden Namen, um Diskriminierung zu vermeiden. Das heißt, dass es unmöglich ist, anhand des Namens aufs Geschlecht zu schließen. Um nichtbinäre Autor*innen zu lesen, gilt dasselbe wie bei allen anderen Marginalisierungsformen: Wir müssen uns mit den Personen beschäftigen, deren Bücher wir lesen. Eine Politisierung der Auswahl unserer Lektüre ist die einzige Möglichkeit, die sogenannten »own voices«, also Autor*innen, die aus eigener Perspektive über Marginalisierung berichten, beim Lesen zu berücksichtigen.

      Für diese Auswahl brauchen wir auch korrekte Online-Einträge.