Katja Kerschgens

Reden straffen statt Zuhörer strafen


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      Stellen Sie sich vor, Sie könnten all diese Floskeln aus der Rede eines solchen Redners streichen – das würde schon enorm zur Straffung beitragen! Dasselbe gilt natürlich für Ihre eigenen Reden.

      Die Wirkung entscheidet

      Noch heute werde ich auf manche Reden angesprochen, die ich vor langer Zeit gehalten habe. Die meisten erinnern sich dabei kaum noch an die Inhalte. Aber sie erinnern sich daran, dass es ihnen Spaß gemacht hat oder dass sie interessiert zugehört haben, dass es sie berührte oder nachdenklich gemacht hat.

      Es ist übrigens kein Qualitätsmerkmal, wenn sich jemand nur wenig daran erinnern kann, was Sie genau gesagt haben. Dieser Effekt ist unserem Gehirn geschuldet, das sich Worte schlechter merken kann als Bilder.

      Schon seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts geistern beispielsweise die Studien von Prof. Albert Mehrabian durch die Rhetorikliteratur. Er versuchte damals anhand von Experimenten zu verdeutlichen, dass Widersprüche zwischen dem Inhalt einer Aussage sowie der Stimme und Körpersprache schnell hinsichtlich der letzteren beiden Aspekte interpretiert werden. Sagt also zum Beispiel jemand „Freundschaft“, betont das Wort aber negativ, so vermutet die Versuchsperson, dass es mit der vermeintlichen Freundschaft nicht weit her sein kann. Ähnliches beobachtete Mehrabian auch hinsichtlich Mimik und Gestik. Heraus kam, dass eine Botschaft nur zu sieben Prozent über den Inhalt, aber zu 38 Prozent über die Stimme und zu 55 Prozent über die Körpersprache wirkt.

      Derartige Prozentangaben sind sicherlich strittig. Aber die Gehirnforschung zeigt, dass grundsätzlich etwas dran ist: Das Unterbewusstsein reagiert sehr stark auf optische und akustische Reize und speichert wesentlich mehr davon ab, als unser Bewusstsein mitbekommt. Die Wissenschaft geht sogar davon aus, dass wir zu 95 Prozent aus dem Unterbewusstsein und nur zu fünf Prozent aus dem Wachbewusstsein agieren.4 Das erklärt auch die „Entscheidungen aus dem Bauch heraus“ – streng genommen gibt es keine anderen, denn alles wird vorher mit dem riesigen unbewussten Wissensschatz abgeglichen.

      So, wie Entscheidungen unbewusst gefällt werden, so werden Sie auch als Redner vor allem auf der unbewussten Ebene wahrgenommen. Und ebendort entstehen Gefühle wie Sympathie, Spaß, Neugierde oder Vertrauen.

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      Auch aus einer straffen Rede merken sich die Zuhörer selten die einzelnen Inhalte. Aber das Erlebnis, das mit dieser Rede verbunden wird – das bleibt hängen.

      Und damit kommen wir zu einer der wichtigsten Grundlagen für straffe Reden: Wenn Sie sich verstellen, werden die unterbewussten Alarmglocken Ihrer Zuhörer schrillen. Doch genau das passiert, wenn Sie meinen, es allen recht machen zu müssen.

      Wer es allen recht machen will, macht was falsch

      Stellen Sie sich vor, ein Mann in einem schicken, teuren Anzug geht in einen hippen Snowboardladen – und regt sich dann darüber auf, dass die Ansprache dort nicht so ist, wie er sie von seinem Jaguarhändler gewohnt ist. Wer hat jetzt recht? Oder um es mit Platon zu sagen: „Ich kenne keinen sicheren Weg zum Erfolg, aber einen sicheren Weg zum Misserfolg: Es allen recht machen zu wollen.“ Sie können nicht von allen geliebt werden. Wenn Sie glauben, es immer allen recht machen zu müssen, werden Sie ein unglückliches Leben führen – denn Sie werden versagen.

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      Versuchen Sie gar nicht erst, es allen recht zu machen.

       Wer straffe Reden halten will, stellt sich höchstens die Frage: I Wem würde ich es am liebsten recht machen?

      Normal kann ja jeder

      Leider tappen viele Menschen gerne in die klassische Falle, in die uns übrigens auch wieder unser Unterbewusstsein schickt: Wir wollen normal sein. Bloß nicht auffallen oder aus der Rolle fallen.5 Die Folge sind dann eben auch „normale“ Reden – im wahrsten Sinne, weil sie nicht von der Norm abweichen. Solche Reden versetzen aber niemanden in Begeisterungsstürme. Im Gegenteil: Sie sind langweilig, weil sie eben nicht gegen die Norm verstoßen! Also trauen vielleicht auch Sie sich nicht, ungewöhnliche Reden zu halten, weil sie damit gegen eine (gedachte) Norm verstoßen. Doch im Gedächtnis bleibt das Ungewöhnliche, Überraschende, Schräge. Daher seien Sie mutig – Ihre Zuhörer werden Ihnen bewusst und auch unbewusst danken!

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      „Schön, wenn andere tolle Reden halten – aber wenn ich vor ein Publikum gehe, verkrampfe ich total. Ich weiß irgendwie nicht, was man von mir erwartet. Und wie ich in meine Rolle als Redner komme.“

      

      Diese Reaktion hat viel mit der Angst zu tun, es allen recht machen zu wollen, der Norm zu entsprechen. Doch wie sollen die Zuhörer wissen, wer Sie wirklich sind, wenn Sie es nicht zeigen? Und nur das ist für die Zuhörer wirklich entscheidend: Sie wollen Sie näher kennenlernen! Reden straffen ist echte Emotion und damit das Gegenteil von Fassung bewahren: Wer seine wahren Gefühle während seiner Rede zeigt, zeigt sich selbst. Und nur den wollen die Zuhörer sehen!

      Beispiel

      Die Teilnehmerinnen in meinem Rhetorikseminar für Frauen bereiteten ihre Abschlussrede vor. Eine jammerte leise vor sich hin: „Ich weiß ja gar nicht, ob Sie das überhaupt interessiert, was ich da gleich erzähle …“ Als sie an der Reihe war, begann sie mit den Worten: „Ich habe 15 Kilogramm abgenommen!“ Und dann berichtete sie mit dem Krimitrick von einem Sport, der es ihr ganz einfach gemacht hatte, dieses Ziel zu erreichen, der ihr viele neue Freunde eingebracht hatte, der ihr bis heute Spaß macht. Am Ende verriet sie: „Dieser Sport ist Aquajogging – und ich empfehle Ihnen: Probieren Sie es auch aus!“ Anschließend sehen wir uns alle gemeinsam die Videoaufnahme an. Wieder jammert sie: „Ich weiß immer noch nicht, ob Sie das überhaupt interessiert hat, das ist ja nur mein Hobby.“ Sie erntet Empörung: „Das war total interessant!“ „Ich wollte unbedingt wissen, was Sie für einen Sport machen!“, kurz: Das Feedback ist großartig. Sie hatte ihre Begeisterung für ihr Hobby so anschaulich rübergebracht, weil sie ganz bei sich selbst war: Ihre Augen leuchteten, sie sprühte vor echter Begeisterung. Damit machte sie neugierig und überzeugte. Es kam weniger darauf an, was sie erzählte – es kam darauf an, wie sie es erzählte! Die Teilnehmerin ging mit neuem Selbstbewusstsein nach Hause: Wir hatten ihr erlaubt, sie selbst zu sein!

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      Straffe Reden erlauben es dem Redner, er selbst sein zu dürfen.

      Raus aus der Rolle!

      Ein straffer Redner spielt niemals eine Rolle. Wer vor Publikum eine Rolle spielt, spielt Theater. Wer aber eine Rede hält, sollte bei sich selbst bleiben, denn diese „Rolle“ kennt er am besten. Und je echter jemand wirkt, umso lieber gehen die Zuhörer innerlich mit, ja, vertrauen ihm sogar unbewusst: „Wer so viel von sich zeigt, scheint auch sonst ein ehrlicher Mensch zu sein!“

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      Ein straffer Redner gibt etwas von sich selbst preis, berührt Menschen und schafft Vertrauen. Wer eine Rolle spielt, schottet sich ab.

      Wenn Sie einfach nur Sie selbst sind, verbrauchen Sie am wenigsten Energie und sind kaum abgelenkt von Ihrer Aufgabe, Ihre Rede zu halten. Wenn Sie aber eine Rolle spielen, sollten Sie ein gutes Gedächtnis haben: Wann und wo waren Sie genau wer …? Ihre Gesten wirken einstudiert, Ihre Worte vielleicht sogar gestelzt. Fänden Sie selbst einen solchen Redner sympathisch?

      Wenn Sie sich nicht verstellen, haben Sie natürlich ein Problem: Es könnte jemanden geben, der Sie nicht so akzeptiert, wie Sie eben