Katja Kerschgens

Reden straffen statt Zuhörer strafen


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      Reden straffen heißt: Sie können nie alle überzeugen. Was Sie brauchen, sind Mehrheiten.

      Schwächen sind erwünscht

      Ein Redner, der ganz bei sich selbst ist und keine Rolle spielt, ist ein Unikum und unverwechselbar. Alles andere ist Theater. Das heißt auch, dass Sie zeigen sollten, dass Sie über sich selbst lachen können. Zeigen Sie, dass Sie ein Mensch sind. Stehen Sie zu Ihren Schwächen oder Fehlern.

      Beispiel

      Fast zweihundert Zuhörerinnen lauschten in dem großen Saal meinem Vortrag. Ich war gut in Fahrt, sprach wie immer frei. Plötzlich erinnern mich meine eigenen Worte an eine Geschichte. Und ich sage auch noch: „Ach, dazu fällt mir gerade eine sehr passende Geschichte ein …“ Und dann – nichts mehr. Sendepause. Blackout. Die Geschichte ist in dem Moment, in dem sie mir in den Kopf gekommen war, auch schon wieder verschwunden. Keine Chance, ich komme einfach nicht mehr drauf, was ich gerade erzählen wollte. Ich schaue mit verblüfftem Gesichtsausdruck in den Saal – und schweige. Da fängt eine Dame in den ersten Reihen schallend an zu lachen, ich erkenne sie: Sie war Teilnehmerin in einem meiner Seminare gewesen. Ich schaue sie an, frage sie: „Was habe ich Ihnen gesagt, was Sie machen sollen, wenn Ihnen bei einer Rede der Faden reißt?“ Sie ruft lachend zurück: „Ich soll sagen, dass mir der Faden gerissen ist!“ Ich sage: „Danke! Das tue ich jetzt auch: Mir ist der Faden gerissen!“ Es folgt fröhliches Gelächter im Saal und Szenenapplaus. Ich orientiere mich neu anhand meiner Redekarten und setze meine Rede kurzerhand an anderer Stelle fort. Noch beim Verabschieden am Ende der Veranstaltung fragten mich einige Zuhörerinnen, ob mir meine Geschichte denn wieder eingefallen sei. Aber sie war immer noch weg, und wir lachten herzlich darüber. Lange Zeit später traf ich einige der Damen wieder, die diesen Vortrag erlebt hatten. Sie lachten wieder fröhlich. „Ach, das fanden wir ganz toll, dass Sie da einen Aussetzer hatten“, sagten sie, „das war so menschlich. Es war beruhigend zu sehen, dass das auch einem Profi passieren kann!“

      „Habe keine Angst vor der Perfektion. Du wirst sie nie erreichen“, hat Salvador Dali gesagt. Ein wahrer Satz. Denn Perfektion erzeugt Aggression. Fehler machen uns zu Menschen. Und an Menschen erinnern wir uns am liebsten.

      Meistens kommt es anders …

      Gehen Sie niemals davon aus, dass Sie Ihre Rede so halten werden, wie Sie sie vorab geplant haben. Es wird immer ein bisschen anders kommen, Sie werden Sätze anders formulieren, Aussagen vergessen oder anders sprechen als vorher ausgedacht.

      Das macht nichts. Denn die einzige Person, die das weiß, sind Sie selbst. Ihre Zuhörer wissen nicht, was Sie eigentlich sagen wollten. Wenn Sie also nach Ihrer Rede unzufrieden sind, dann liegt das ausschließlich an der Perfektionsfalle in Ihrem eigenen Kopf. Die Zuhörer hören nur das, was sie hören. Und das sind für sie hundert Prozent. Ihre gewünschten hundert Prozent sind ein Traum. Und wie das mit Träumen immer so ist: Sie lassen sich schwer einfangen. Also setzen Sie sich nicht unnötig unter Druck: Perfektion ist nicht das Ziel. Menschlichkeit sollte Ihr Ziel als straffer Redner sein!

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      Reden straffen ist das Gegenteil von Perfektion:

       Improvisation und Fehler wirken menschlich und werden vom Zuhörer begrüßt.

      Durchbrechen Sie Denkmuster!

      Wer etwas anders macht als andere, der lehnt sich weit aus dem Fenster. Sie wollen sich lieber nicht aus dem Fenster lehnen? Das ist nachvollziehbar, denn wer das tut, gibt vielen die Chance, zu einem vernichtenden Schlag auszuholen. Wer laut sagt, was er denkt, riskiert Kritik. Aber wer es lässt, riskiert Profillosigkeit. Umso mehr ist der Mut des Redners zu bewundern, der ausspricht, was er denkt. Denn Redner, die auch mal polarisieren, regen ihre Zuhörer zum Denken an.

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      Nur wer sich weit aus dem Fenster lehnt, überblickt den ganzen Horizont: Straffe Reden entwickeln Visionen.

      George Orwell hat das einst wunderbar formuliert: „Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, anderen Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“ Wie wahr. Doch viele Menschen wollen sich in ihrem Denken nicht gestört fühlen. Und gerade alte Denkmuster und falsche Vorstellungen verleiten Menschen dann dazu, unstraffe Reden zu halten. Doch gerade starke Statements und klare Meinungen bringen den Zuhörer dazu, plötzlich aufmerksam hinzuhören. Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie halten eine Rede, und alle hören zu! Klingt witzig, ist aber nicht witzig gemeint. Bei vielen Reden geschieht genau das nämlich nicht. Aber versetzen Sie sich jetzt in die Rolle des Redners: Fühlt sich das gut an, wenn die Zuhörer anfangen, ins Leere zu starren, zu gähnen oder auf die Uhr zu schauen, weil sie wieder nur „Normales“ vorgesetzt bekommen?

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      Straffe Reden halten ist mehr als nur ein Flirt mit dem Publikum: Es ist ein Heiratsantrag.

      Das Geheimnis bei straffen Reden ist, dass ein Redner spürt, wenn seine Zuhörer ihm ihr Ja zuwerfen: Sie hängen an seinen Lippen. Und Lippenhänger im Publikum sind Gänsehautmacher beim Redner. Da fängt es dann auch an, dem Redner Spaß zu machen. Ach ja, noch so ein Satz: Stellen Sie sich vor, Sie halten eine Rede, und es macht Ihnen Spaß!

      Beispiel

      Mein Kunde wollte einen Vortrag straffen, mit dem er üblicherweise seine Firma vor neuen Kunden präsentierte. Zwei Ansagen prägten die Vorgespräche des Einzelcoachings: „Ich will bei PowerPoint bleiben, das ist so üblich in meiner Branche. Und ich habe überhaupt keinen Spaß am Reden halten!“ Zu Beginn des Coachings ließ ich den Geschäftsführer seinen Vortrag so halten wie immer. Ich nahm alles mit der Kamera auf. Anschließend lasse ich ihn seinen gesamten Vortrag ansehen – eine halbe Stunde lang. Er windet sich auf seinem Stuhl, schüttelt immer wieder den Kopf. Wir halten die Aufnahme alle paar Minuten an, besprechen einzelne Punkte. Am Ende der Aufnahme geht er zu seinem Laptop. Er klappt ihn zu. Er sagt zu mir: „Frau Kerschgens, ich habe verstanden. Und was machen wir jetzt?“ Wir nutzten den gesamten restlichen Tag, um seinen Vortrag mit seinen persönlichen Geschichten zu bereichern. Er lernte, Kopfkino zu erzeugen. Jetzt konnte er nur mit einem Flipchart die Kernaussagen seines Vortrags anschaulich machen. Drei Wochen nach unserem gemeinsamen Termin rief er mich an: „Ich habe zum ersten Mal diesen Vortrag gehalten – und anschließend sagte der potenzielle Kunde zu mir: ‚Das war ein toller Vortrag!‘ Und wissen Sie was, Frau Kerschgens? Es hat mir auch noch Spaß gemacht!“

      Lernen Sie aus Ihrem Erfolg!

      Ein Redner sollte sich selbst als Zuhörer erlebt haben, um ganz schnell von alten, falschen Vorsätzen abzukommen und die wahren Bedürfnisse seiner Zuhörer zu erkennen – Zuhörer, der er ja selbst auch immer wieder bei anderen ist. Ein Redner, der den Mut hat, Neues auszuprobieren, wird Erfolg und Spaß daran haben. Ja, er wird schon während seines Vortrags Spaß empfinden, denn er weiß um die Wirkung beim Zuhörer und spürt den Effekt straffer Reden. Doch Neuland betreten ist ja bekanntlich das Gegenteil von Sicherheit, die auf den ersten Blick viel verlockender wirkt. Viele Redner suchen die vermeintliche Sicherheit daher auf dem Papier:

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      „Ich schreibe meine Reden auf, das kann ich schön in Ruhe vorbereiten – und dann mache ich auch keine Fehler bei meinem Vortrag, weil ja alles schon ausformuliert ist.“

      Nur die freie Rede ist eine Rede

      Wer eine Rede ausformuliert und aufgeschrieben hat, hält keine Rede, sondern eine Lese. Das wirkt nicht nur unpersönlich und unspontan, es klingt meistens gestelzt und ist bespickt mit schwer verdaulichen Worthülsen, Schachtelsätzen