Anne M. Schüller

Die Orbit-Organisation


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siehe da: Die Sesshaftigkeit hat Zivilisation und damit auch Kooperation in großem Stil überhaupt erst ermöglicht. »Die Steinzeit ist nicht zu Ende gegangen, weil den Menschen die Steine ausgingen, sondern weil sie sich neuen Technologien zuwandten«, so die Archäologen.

      Auch die Mutter der Digitalisierung, das Internet, hat keinen Boss. Im Internet vernetzen sich die Menschen zu Schwärmen, die mal in die eine und mal in die andere Richtung ziehen, immer auf der Suche nach Neuem, Anderem, Besserem. Dabei geht es nicht nur um eine Vernetzung von Daten, sondern auch um die Vernetzung von Wissen. Wie das funktioniert? Im Web ist dies ein sich selbst steuernder permanenter Prozess, der über vielerlei Knotenpunkte, also Plattformen, Portale und soziale Netzwerke, läuft.

      Wenn die Komplexität zunehmend steigt, sind sich selbst organisierende Strukturen tauglicher als starre Systeme. In Netzwerken gibt es kein Oben und Unten. Weil Netzwerke sich dezentral organisieren, sind sie schnell, anpassungsfähig, robust und flexibel. Sie sind ein Brutkasten für die Kreativität genialer Köpfe, die ideenreich Neues hervorbringen können und wollen. Doch Kreativität ist ein sensibles Gewächs, das die richtigen Umstände braucht. Autonomie und ein teilendes Miteinander gehören dazu. Innovative Energie und damit auch Disruptionen brauchen also eine vernetzungsfreundliche Organisation. Und sie brauchen angstfreie Räume. Deshalb wird in florierenden Jungunternehmen auch so viel Wert auf ein Wohlfühlklima gelegt. Reale Begegnungen, ein angenehmes Umfeld, intensiver Austausch und gute Stimmung gehören dazu. Nur wem es gut geht, der macht gute Arbeit.

       Angst tötet Kreativität und innovative Energie.

      Überall im Unternehmen müssen »Möglichkeitsräume mit Innovationspflicht« geschaffen werden, in denen eigeninitiatives Handeln den Vorzug vor Direktiven erhält. Um dabei gut voranzukommen, sind umfangreiche Freiheitsgrade, Vertrauen, kurze Entscheidungswege, ein Höchstmaß an Flexibilität und eine kollaborative Vernetzung vonnöten. Analog den Knotenpunkten werden Brückenbauer gebraucht, die als flinke Weichensteller für optimale Verschaltungen sorgen. So kann es gelingen, die kollektive Intelligenz der besten Ratgeber zu mobilisieren, die es da draußen gibt: der eigenen Mitarbeiter und der sozial vernetzten Kunden. Pyramidale Strukturen sind dazu nicht geeignet. Weil diese nur in eine Richtung zeigen, nämlich von oben nach unten, verbauen sie den Blick auf andere, womöglich weitaus bessere Wege zum Ziel.

      Ein wichtiger Aspekt an dieser Stelle: Selbstorganisation ist eine Wahl. Das hat mit dem inzwischen vielfach üblichen »Empowern« der Mitarbeiter, also der »gnädigen« Abgabe von Macht, nichts zu tun. Ermächtigung wird von oben gewährt, insofern ist sie nur eine abgemilderte Spielart des alten Systems. »Enablen« hingegen, also das Möglichmachen, geschieht auf Augenhöhe mit dem Ziel einer zunehmenden Autonomie.

      Selbstorganisation bedeutet natürlich nicht, dass alles sich komplett selbst überlassen bleibt und nach dem Prinzip »irgendwie« funktioniert. Ein grundlegender Rahmen ist unumgänglich, damit nicht alles im Chaos versinkt. Unbestreitbar braucht es in manchen Fällen auch strikte Ablaufpläne, wie etwa im Flugverkehr und bei der Feuerwehr. Doch grundsätzlich dürfen Ordnungssysteme nie so einengend sein, dass dadurch Anpassung verlangsamt und Fortentwicklung ausgebremst wird.

      Auch die Wikipedia, eines der eindrücklichsten Beispiele für Selbstorganisation, hat ein klares Regelset, das Wildwuchs verhindert und die Webgemeinde vor Fake News bewahrt. Was wenig bekannt ist: Nupedia, die Vorläuferin der Wikipedia, ist mit Pauken und Trompeten gescheitert. Und warum? Zunächst durften nur ausgewiesene Experten Enzyklopädie-Einträge schreiben. Hierzu wurde ein siebenstufiger Prozess mit Zuweisung, Doppelgutachten, Zwischen- und Endkontrolle definiert. Nach 18 Monaten und 250 000 ausgegebenen US-Dollar hatte die Nupedia 12 fertige Artikel und 150 im Entwurfsstadium.15 Anfang 2001 stellten Jimmy Wales und Larry Sanger dann auf eine offene Verfahrensweise um, sodass jeder seitdem unter Beachtung einiger weniger Vorgaben Einträge verfassen und redigieren kann. So begann der überwältigende Siegeslauf eines Disruptors. Ende 2017 stand das universell zugängliche Onlinelexikon mit 47 Millionen Artikeln in 295 Sprachversionen unter den meistaufgerufenen Webseiten der Welt nach Google, YouTube, Facebook und Baidu auf Platz fünf.16

      New School: Die Architektur von Jungunternehmen

      New-School-Organisationen schaffen eine Kultur, die mit dem schnellen Wandel Schritt hält, und die notwendigen Rahmenbedingungen, um dies möglich zu machen. Bisweilen bezeichnen wir sie in diesem Buch auch als Netzwerkorganisationen oder agile, innovative Jungunternehmen. Ihre Gründung fällt in die Internetzeit, weshalb sehr viele von ihnen in der Digitalwirtschaft tätig sind. Wie solche Unternehmen agieren:

      image Sie lieben ihre Kunden (und deren Daten).

      image Sie hassen Bürokratie, da sie Verschwendung verursacht.

      image Ihr Vorgehen ist offen, wendig, flexibel und schnell.

      image Sie nutzen agile und kollaborative Arbeitsmethoden.

      image Sie agieren niedrighierarchisch mit Minimalstrukturen.

      image Die Mitarbeiter arbeiten weitestgehend selbstorganisiert.

      image Die Kernbelegschaft wird durch Externe (Freelancer) ergänzt.

      image Die Vermarktung geschieht über Wertschöpfungsnetzwerke.

      image Wenig Besitz, vielmehr kostengünstiges Mieten und Teilen.

      image Sie denken ihre Geschäftsmodelle von Anfang an digital.

      image Sie streben nach hoher Skalierbarkeit bei minimalen Kosten.

      Die Architektur innovativer Jungunternehmen ist geprägt von Offenheit und Vernetzung. Die Prozesse sind stets hochflexibel und laufen sehr zügig ab. Die Orte der Arbeit sind meist minimalistisch und sehr funktional. Sie bieten die Grundlage für Kollaboration und Konnektivität. Zwar haben steife Vorgaben in Jungunternehmen keinen Platz. Mehr noch als in Großunternehmen würden sie hier zu Verzettelung, Frust und Effizienzverlust führen. Dennoch braucht es ein Mindestmaß an Strukturen ebenso wie die Standardisierung von Basisprozessen. Sie geben Halt und sorgen für Sicherheit.

      Kundenorientierung erfordert, dass die Prototypisierung beim Kunden beginnt – und nicht in der Entwicklungsabteilung. Es ist nämlich ziemlich intelligent, wenn man erst den Kunden versteht, bevor das Produkt entsteht. Deshalb bauen Jungunternehmen ihre Teams interdisziplinär um Kundenprojekte herum, und zwar entlang der Prozesskette, in der die Kundenleistung entsteht: Der Entwickler, der Designer, die Produktion, der Vertrieb, der Kundendienst und wer sonst noch wichtig ist, agieren gemeinsam, damit das Ganze wie aus einem Guss funktioniert. Eine Führungskraft im klassischen Sinne ist nicht mit dabei. Denn Macht killt Kreativität. Sie verlangsamt Entscheidungsprozesse. Sie züchtet das Jasagersyndrom. Und sie stört den Fortlauf der operativen Arbeit.

      Neue Mindsets: Die Kultur von Jungunternehmen

      Agile Jungunternehmen binden die Kunden aktiv in die Entwicklung mit ein. Dies hilft ganz enorm, den Kunden so gut zu verstehen, dass man Angebote erstellen kann, die dessen Bedürfnisse perfekt