Paul Williams

Die Illusion der Unbesiegbarkeit


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erst mit den ersten Erfolgen? Wie viel Marketing, wie viel bewusste Legendenbildung steckt in solchen Selbstdarstellungen? Wir wissen es nicht. Sicher ist: Damit Visionen wirklich begeistern und motivieren, müssen sie sowohl emotional berührend als auch glaubwürdig sein. Sie müssen im Unternehmen gelebt werden, in seiner DNA stecken, sonst lösen sie nur Zynismus aus. Würde die Deutsche Bahn heute verkünden, ab sofort den globalen Siegerpokal in Sachen Kundenfreundlichkeit anzustreben, wäre das kein strategischer Coup, sondern vermutlich ein PR-Gau. Idealerweise destilliert eine Vision also die Essenz dessen heraus, wofür ein Unternehmen steht, und übersetzt dies in ein ambitioniertes, emotional berührendes (Fern-) Ziel. Mitarbeiter werden sich nur in einer Vision wiederfinden, die ihren Alltag zwar in ehrgeiziger Weise transzendiert, aber doch noch Anknüpfungspunkte im alltäglichen Handeln und Erleben hat. Selbst die Incas konnten sich bei ihrer »Ordnungsvision« nicht nur auf göttliche Weisung berufen, sondern auf bestehende Erfolge, die ihre Vision für Nachbarvölker glaubwürdig machten.

      Ziele, Strategien und Werte lassen sich also nicht, wie oft behauptet, kausal aus einer Vision ableiten. Eher hat man es mit einer Spiralbewegung zu tun, in der Normen / Werte / Spielregeln, Alltagspraxis, konkrete Businessziele und übergeordnete Vision ineinandergreifen (vgl. Abb. 3). Wenn Mercedes-Benz die Parole »Das Beste oder nichts« ausgibt, bündelt das Unternehmen damit ein Qualitätsverständnis und einen unternehmerischen Stolz, der vielen Mitarbeitern in Fleisch und Blut übergegangen ist. Nicht ohne Grund erzählt man in Schwaben bis heute gern, dass man »beim Daimler schafft«. Dass Mercedes-Benz damit gleichzeitig an die Vision des Unternehmensgründers anknüpft und dies sogar in einem Werbespot verarbeitete,6 spricht für ein im Unternehmen fest verankertes Langzeitziel, das geeignet ist, Mitarbeiter zur Identifikation einzuladen. Im Gottlieb-Daimler-Museum in Daimlers ehemaligem Gartenhaus ist der Spruch in die Decke gemeißelt.7 Derart in der DNA des Unternehmens verankerte Visionen sind dann tatsächlich geeignet, die Reihen zu schließen, Sinn zu stiften und über schwierige Zeiten hinwegzutragen. Doch wie gelangt man zu einer Unternehmensvision, wenn man sich nicht auf ein legendäres Zitat des Unternehmensgründers berufen kann? Auch dazu im nächsten Abschnitt eine Geschichte aus der Businesswelt.

      Abb. 3: Überzeugende Visionen sind in der Praxis geerdet.

      Von Adlern, die durch Zirkuszelte fliegen

      Wenn Visionen die Menschen berühren sollen, kann man sie ihnen also nicht vorschreiben, etwa nach dem Motto: »Ab 01.09.20XX gilt Vision XYZ!« Dass das nicht funktioniert, ist psychologisch nachvollziehbar. Vielfach setzen Unternehmen dann auf das alte pädagogische Prinzip, Betroffene zu Beteiligten zu machen, und grundsätzlich ist es auch gut, viele Mitarbeiter einzubeziehen, um eine Vision in der Organisation zu verankern. In vielen Firmen allerdings wird die größtmögliche Kaskade von Meetings und Workshops quer durch alle Ebenen angestoßen. Was dabei herauskommt, ist häufig der kleinste gemeinsame Nenner: tut niemandem weh, reißt aber auch niemanden vom Hocker. Doch es geht noch schlimmer …

       Die absurde Scheinwelt mancher Workshops

      Ein Konzern hatte sich die Vision verordnet, in 15 Jahren zu den Top Ten seiner Branche zu gehören. Neben den klassischen Workshops zu Fernzielen und strategischen Themen gab es auch Visions-Workshops, um sich selbst und seine Arbeitseinheit (Abteilung, Region, Land) im Rahmen der Vision 2020 neu zu definieren. Einer der Urväter der Vision auf Seiten des begleitenden Consultingunternehmens legte dabei viel Wert auf eine metaphorische Einstiegsübung als »Ice-Breaker«. Kein Workshop ohne diesen besonderen Moment, in dem jeder Teilnehmer aufschreiben sollte, wie er sich selbst definiert. Dabei wurden der Kreativität keine Grenzen gesetzt: Analogien zur Welt außerhalb des Unternehmens oder auch zur Tierwelt waren ausdrücklich erwünscht.

      Die Leute schrieben also auf Kärtchen, wie sie sich oder ihren Bereich sehen. Die meistgehandelten Begriffe waren Metaphern wie Zirkusdirektor, Hofnarr, Meerjungfrau, Wahrsagerin, Bienenkönigin (umgeben von unnützen Drohnen), Kondor, großer Adler, kleiner Adler, großer Tanker, kleines Schnellboot, Elefant im Porzellanladen, Rattenfänger von Hameln, General, kleiner Soldat (der nichts machen kann), Innenminister, Außenminister usw.

      Spätestens bei dem Hinweis auf Drohnen oder Porzellanläden hätte man stutzig werden können, doch Sie kennen das vielleicht: Bei solchen Übungen betritt man eine ironiefreie Zone.

      Anschließend wurden Begriffe in Gruppenarbeit »geclustert«, mit Klebepunkten bewertet und so lange kondensiert, bis am Ende ein Gesamtbild entstand, mit dem sich vermeintlich alle identifizieren konnten. Das ergab so wunderbare Visionsvarianten wie »Kleiner Adler, flieg!«, »Großer Adler, der durch das Zirkuszelt fliegt«; »Der Super-Tanker fährt so schnell wie ein Schnellboot« oder auch unser Favorit »Der Hofnarr reitet auf dem Kondor«.

      Das war dann der Kick-off für die Visions-Workshops, die zu Hunderten und zur Freude der Consultants national und weltweit durchgeführt wurden. Auch wenn es einen heute zum Schmunzeln bringt, war es damals für die Beteiligten eine ganz ernste Sache.

      Visionen aus einem Mix individueller Spontanideen herauszudestillieren ist ebenso riskant, wie sie komplett in die Hände eines externen Beratungsunternehmens zu legen. Wie schon gesagt: Eine »funktionierende« Vision entspricht dem Geist des Unternehmens und leitet daraus ein ambitioniertes Fernziel ab, das als Ansporn, Richtschnur für tägliches Handeln und Begeisterungsmoment taugt. Wenn eine Organisation »das kundenfreundlichste Unternehmen der Welt« werden will, lassen sich konkrete Entscheidungen auf jeder Unternehmensebene an dieser Vision messen, von der Reaktion des Sachbearbeiters auf eine Kundenbeschwerde bis hin zu strategischen Entscheidungen des Managements. Eine gute Vision beschreibt ein Projekt, bei dem die richtigen Leute sagen: »Da will ich dabei sein!« Sie verleiht der eigenen Arbeit einen Sinn und ist daher ein wichtiger Motivationsfaktor. Sie bringt die Dinge einfach, klar und für jedermann verständlich auf den Punkt. Das disqualifiziert lange, gewundene Formeln des Unternehmensmarketing ebenso wie rein monetäre, umsatzbezogene Ziele.

      Oder würde das Folgende Ihr Herz gewinnen?

       image »We aspire to be the leading client-centric global universal bank. We serve shareholders best by putting our clients first and by building a global network of balanced businesses underpinned by strong capital and liquidity.« (Deutsche Bank)

       image »We are ›The Chemical Company‹ successfully operating in all major markets.« (BASF)

       image »Unsere Vision: Global führend mit Marken und Technologien.« (Henkel)

       image »Die beste Leistung – für Kunden, Kaufleute, Mitarbeiter.« (REWE) 8

      Je mehr Worte es braucht, desto mehr Skepsis ist angebracht. Das »kundenorientierteste Unternehmen der Welt« werden zu wollen, mag beflügeln. Aber »die führendste kundenzentrierte globale Universalbank, die die Interessen ihrer Shareholder exzellent bedient«? Auch Verweise auf Leistungs- oder Marktanteilsziele verpuffen, weil sie Selbstverständlichkeiten mit großem Pathos präsentieren: Welches Unternehmen möchte nicht »auf all seinen Hauptmärkten erfolgreich sein« und die »beste Leistung« bringen? Solche Formulierungsversuche übersehen, dass kraftvolle Visionen aus starken Emotionen gespeist werden. Zugegeben, das ist für Non-Profit-Organisationen leichter umzusetzen als für Unternehmen. Aber es ist nicht unmöglich:

       image »Die Vision von UNICEF: