Cornelia Topf

Einfach mal die Klappe halten


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schweigt, auch und gerade wenn er angegriffen, provoziert, beleidigt oder unter Druck gesetzt wird, verschafft sich einen Vorteil, der gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann:

       Wer schweigt, bestimmt seine Reaktion auf äußere (und innere) Umstände selbst, anstatt sich zum Sklaven anderer oder der Sachzwänge machen zu lassen.

      Nur der zum Schweigen fähige Mensch ist ein autonomer, starker, unabhängiger, freier, selbstbewusster Mensch. Natürlich äußert sich diese Autonomie noch in vielen anderen Merkmalen. Doch Schweigen ist ein integrales und wesentliches. Menschen, die nicht schweigen (können), sind fremdbestimmt, sachgezwungen und meist latent oder evident gestresst bis zum Geht-nicht-mehr.

      Wer schweigt, schöpft Kraft

      Auf einem Spielplatz beobachtete ich eine Mutter, deren Kind alle zehn Sekunden entweder irgendetwas von ihr wollte, sie anmeckerte oder die Knie aufgeschlagen hatte. Und stets musste die Mutter parat sein, antworten, trösten, auf die Meckereien reagieren. Bis sie von einer Sekunde auf die andere verstummte, während ihr Kind im Hintergrund wieder irgendeine weltbewegende Trivialität in 150 Dezibel zum Besten gab. Keinem außer mir fiel das plötzliche Verstummen der Mutter auf. Ich sah sie verwundert an. Unsere Blicke kreuzten sich für eine halbe Sekunde und in ihren Augen sah ich deutlicher als jede Neonschrift die Botschaft: »Ah, tut das gut, wenigstens für fünf Sekunden abzuschalten und die Klappe zu halten.« In diesen fünf Sekunden ließ sie alles los, was sie an diese Erde band, und schwebte quasi flügelleicht durch den Äther. In diesen fünf Sekunden holte sie sich die Kraft, die sie für weitere fünf Stunden Stressfamilie benötigte. Die Kraft der Autonomie, der unbegrenzten und unbegrenzbaren Selbstbezogenheit. Deshalb haben sämtliche Religionen der Welt Meditationspraktiken entwickelt. Weil das Schweigen eine der größten, wenn nicht die größte Kraftquelle eines Menschen ist (siehe ausführlich in Kapitel 4 und 9).

      Wer schweigt, lässt sich nicht fremdsteuern, manipulieren, sachzwingen. Er oder sie emanzipiert sich vom Diktat unserer Zeit, wenigstens für einen Moment, für den entscheidenden Moment, um Kraft zu schöpfen. Wer schweigt, bestimmt seine Reaktion auf äußere Umstände selbst, anstatt sie sich diktieren zu lassen. Das ist nicht nur ein äußerst luxuriöses Erlebnis. Das gibt auch viel Energie.

      Wer schweigt, rebelliert

      Die Alternative ist, auf jeden Reiz, der von außen an Sie herangetragen wird, mit einer Widerrede zu antworten. Schon allein den Gedanken daran empfinde ich als ermüdend. Das bin ich nicht. Das will ich nicht. Ich kann und möchte nicht der Sklave von Umständen oder Zeitgenossen sein. Ein Sachbearbeiter drückte es klar aus: »Mein Schweigen ist meine kleine Rebellion, mein erhobener Stinkefinger, den nur ich sehen kann und den ich emporrecke, wenn es mir zu bunt wird. Ich schweige, und schon geht es mir ein wenig besser.« Warum?

      Wer schweigt, ist frei

      Inmitten einer Welt von fordernden Vorgesetzten, mäkelnden Familienangehörigen und unzähligen Sachzwängen ist Schweigen ein Akt der Selbstbehauptung, der Befreiung, der Entgrenzung. Eine innere Unabhängigkeitserklärung, sozusagen, eine Entfesselung. Wer schweigt, nimmt sich die innere Freiheit, selbst zu entscheiden: Was will ich tun? Wie will ich reagieren? Schweigen oder reden?

      Schweigen sprengt Fesseln

      Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie segensreich diese Freiheit für den modernen Menschen ist. In meinen Seminaren und Coachings finden sich so viele Menschen ein, die der allgegenwärtige und pausenlose Zwang unserer Zeit völlig fertigmacht. Der Zwang, immer präsent, immer erreichbar, immer leistungsfähig und vor allem leistungswillig zu sein, maximal flexibel und mobil, bis zur Selbstaufopferung motiviert – für die Angelegenheiten anderer! Schweigen entzieht uns diesem omnipräsenten Zwang, befreit uns von ihm, wirft die Fesseln einer ganzen Zivilisation ab. Wenigstens für einige Sekunden, die wie Stunden wirken.

      Das Recht zu schweigen

      Vor Gericht hat jeder Angeklagte das Recht zu schweigen, um sich nicht selbst zu belasten. Schweigen nützt. Auch vor Gericht. Außerhalb des Gerichts machen wir viel zu selten von diesem Recht Gebrauch. Wir lassen uns von der Plapperhaftigkeit unserer Zeit verführen. Allerdings macht es uns die Umwelt auch nicht immer leicht, dieses Recht einzuklagen.

      Erwarten Sie nicht, dass Ihre Ihnen angeblich wohlgesinnten Zeitgenossen Ihr neues Schweigen mit Begeisterung quittieren. Ein Ehemann berichtet: »Meine Frau fuhr die ersten Male förmlich aus der Haut und wollte wissen, weil ich ihr nicht binnen einer Zehntelsekunde antwortete, ob ich nicht mehr mit ihr rede.« Ach du meine Güte! Was tat der Mann? Er gab sein Schweigen nicht auf (die naheliegende Option: »Schweigen funktioniert nicht! Bei mir nicht!«). Er erklärte seiner Frau vielmehr sein Schweigen: »Schatz, ich möchte dir nicht einfach an den Kopf werfen, was mir gerade durch den Sinn geht. Ich glaube, dass du eine Frau bist, die eine Antwort verdient hat, auf die ich etwas mehr Gedanken verwende.« Zugegeben: Das ist dick aufgetragen. Der Mann ist ein alter Charmeur. Doch gerade deshalb sah seine Frau, dass es ihm ernst war. Er sagte es glaubhaft. In der Zwischenzeit hat sie sich an sein neues Schweigen gewöhnt. Sie verriet mir: »Ich glaube, er nimmt mich jetzt viel ernster als vorher. Er redet jetzt auch wirklich klüger. Und wir streiten weniger.« Fazit: Schweigen ist für alle Beteiligten gut. Doch das muss man den Beteiligten oft erst noch nachsichtig und geduldig erklären.

       Seien Sie sich bewusst, dass es unmöglich ist, nicht zu kommunizieren. Sie sagen immer etwas aus. Ob Sie schweigen oder reden. Also wäre es doch klug, erst einmal abzuschätzen: Rede ich nun oder soll ich lieber schweigen? Was hat die größere, was die richtige Wirkung?

      ÜBUNG

      Achten Sie in Ihren nächsten Gesprächen einmal darauf: Wann ist es klüger zu schweigen? Wann ist es besser zu reden? Was erzielt welche Wirkung? Welche positiven und negativen Nebenwirkungen? Wovon hängt das ab? Von Situation, Kontext und Gesprächspartner? Inwiefern? Welche Regeln der Anwendung lassen sich daraus ableiten?

      Die Regeln des Schweigens

      Der letzte Aspekt ist übrigens ein fruchtbarer: Wir reden alle mehr oder weniger zügel- und regellos. Deshalb hängen in vielen Meeting-Räumen die sogenannten Feedback-Regeln (Kurz fassen! Nicht unterbrechen! Ich statt Du! …). Eigentlich absurd: Wir können doch alle reden! Wozu die Regeln? Weil wir es eben nicht können. Es ist wie mit dem Autofahren. Jeder meint, er kann es, aber das meint eben nur er selbst. Etwas peinlich ist es, wenn man dann die nötigen Regeln vom Trainer oder vom Plakat an der Wand beigebracht bekommt und nicht selbst drauf kommt.

      Diesen Empowerment-Effekt übt Schweigen aus. Viele Schweiger berichten mir: »Schon nach den ersten paar Tagen wurde mir klar, wann es klüger ist zu schweigen und wann es besser ist zu reden. Dafür gibt es richtige Regeln!« Ein Vorgesetzter sagte mir: »Wenn früher Mitarbeiter mit einem Problem zu mir kamen, sagte ich meist: Machen Sie das eben so und so! Dann schickte ich die Leute weg – und schwups standen sie wieder in der Tür: Hat nicht funktioniert! Jetzt zwinge ich mich oft mit zusammengeballten Fäusten in der Hosentasche, geduldig zu schweigen und zuzuhören, bis die Leute mit ihrer Schilderung zu Ende sind. Dann bringen sie nämlich meist von sich aus Lösungsvorschläge vor. Und mit denen stehen sie dann nicht wieder in der Tür. Weil die eigenen Vorschläge natürlich immer klappen. Dem Chef muss man beweisen, dass man es besser weiß und seine Vorschläge nichts taugen!« Merke: Was die Regeln des Schweigens für ihn ganz persönlich sind, das findet jeder selbst heraus, der bewusst schweigt und aufmerksam die Reaktionen darauf beobachtet.

      Bewusst kommunizieren

      Wir sollten unsere Kommunikation von Gewohnheit auf Bewusstheit umstellen, von Reflex auf Wirkungsorientierung, von Mitteilen auf Bewegen. Einige, vor allem Frauen, fragen an dieser Stelle etwas ängstlich, ob es denn nicht