sich nicht etwas einbildete.
Lynne achtete nun ebenfalls nicht mehr auf den Regen, der etwas heftiger geworden zu sein schien.
Ihr Blick ruhte auf der schemenhaften Gestalt, die völlig reglos dastand.
Sie schluckte.
"Bill?", fragte sie dann, laut genug, dass der Unbekannte sie hören konnte.
Es war einfach ein Versuch.
Ein Versuch, der sie allen Mut kostete, den sie aufbringen konnte. Aber die Ungewissheit darüber, wer sie quälte und offenbar auf Schritt und Tritt beobachtete, war einfach unerträglich geworden.
"Bill?", fragte sie noch einmal. "Was wollen Sie von mir? Wollen Sie, dass ich mich fürchte? Gut, das haben Sie erreicht. Ich kann nachts kaum noch schlafen und bin kaum noch in der Lage, meine Sendung zu machen. Was wollen Sie noch?" Sie redete einfach drauflos und ihre Angst verflog dabei mehr und mehr. Sie ging zwei, drei Schritte auf den Geheimnisvollen zu, in den auf einmal Unruhe gefahren zu sein schien.
Er wandte sich ab und ging davon.
"Bill, so bleiben Sie doch stehen!", rief Lynne. "Oder soll ich Mister Delaney sagen?"
Der Geheimnisvolle begann jetzt zu rennen. Er setzte zu einem Spurt an.
Er war ein guter Läufer.
Seine langen Beine trugen ihn mit raumgreifenden Sätzen über den Parkplatz. Er lief zwischen ein paar Sträuchern hindurch und war dann einen Augenblick später verschwunden.
"Bill", flüsterte Lynne und ließ den Blick schweifen. Aber sie konnte nirgends etwas sehen, was ihr einen Anhaltspunkt geben konnte.
"Mit wem redest du, Lynne?", fragte plötzlich eine Stimme in ihrem Rücken.
Es war eine weibliche Stimme.
Lynne wirbelte herum und blickte in das ziemlich verwunderte Gesicht von Colleen McGray, die mit einem Schirm in der Hand dastand.
"Es ist nichts", beeilte sich Lynne zu sagen. "Wirklich nichts."
Colleen zuckte die Achseln.
"Ich dachte nur."
"Es ist wirklich alles in Ordnung, Colleen."
Colleen strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und musterte Lynne zweifelnd. "Ich habe gehört, du machst eine Weile Urlaub...", sagte Colleen dann.
Lynne blickte sie verwundert an.
"Ach, ja?", versetzte sie spitz.
"Grady hat es mir gesagt."
"Solche Sachen machen ja schnell die Runde!", stellte Lynne etwas ärgerlich fest.
"Tut mir leid, es war nur eine Frage", erwiderte Colleen.
Lynne lächelte gezwungen. "Natürlich."
Einen Augenblick lang herrschte ein verlegenes Schweigen.
"Kann ich dir irgendwie helfen?", erkundigte sich Colleen dann. "Du brauchst nur etwas zu sagen."
Lynne nickte leicht.
"Okay."
26
Lynne fuhr zu ihrer Wohnung, duschte und zog sich um. Dann packte sie ein paar Sachen in einen Handkoffer und setzte sich eine Tasse starken und rabenschwarzen Kaffee auf.
Sie wollte noch in dieser Nacht London verlassen und dabei nicht am Lenkrad ihres Wagens einschlafen.
Sie hatte kein bestimmtes Ziel im Auge und wusste eigentlich nur, dass sie an einen Ort wollte, an dem sie garantiert allein war. Dort würde sie wieder etwas Kraft sammeln. Sie trank ihren Kaffee aus, zog den Mantel über und wollte gehen, da klingelte das Telefon.
Viermal klingelte es, ehe Lynne sich entschließen konnte dranzugehen.
"Ja?"
Auf der anderen Seite der Leitung knackte es nur kurz, dann war die Verbindung unterbrochen. Lynne kroch es eiskalt den Rücken hinauf.
Für sie war keine Frage, was dieser Anruf bedeutete.
Er ist in der Nähe!, zuckte es durch das Meer ihrer düsteren Gedanken.
Sie legte den Hörer auf.
Ein paar Minuten später hatte sie ihre Wohnung verlassen und schleppte ihren Koffer zum Wagen. Sie öffnete den Kofferraum und verstaute ihn dort. Immer wieder blickte sich nach allen Seiten um. Aber da war niemand. In einem der parkenden Wagen glaubte sie, eine Bewegung zu sehen. Ein Schatten, mehr nicht.
Aber Lynne war sich nicht sicher.
Ich sehe schon Gespenster!, schalt sie sich selbst.
Sie setzte sich hinter das Lenkrad und fuhr los. Sie fuhr ein paar Umwege durch die Stadt und zweimal glaubte sie, verfolgt zu werden. Als sie Greater London hinter sich gelassen hatte, hielt sie sich südwärts. Es war schon hell, als sie kurz an einer Tankstelle hielt.
Der Tankwart wirkte ziemlich verschlafen.
"So früh schon unterwegs?", meinte er, als Lynne ihre Benzinrechnung bezahlte. Er gähnte dabei.
"Wie weit ist es noch bis zur Küste?", fragte Lynne.
Der Tankwart grinste und zog eine Karte aus einem der Verkaufsständer. Er legte sie vor Lynne auf den Tresen.
"Kaufen Sie sich das da", grinste er. "Dann wissen Sie Bescheid!"
"Danke", erwiderte Lynne sarkastisch. Ein Gähnen konnte sie nur schwer unterdrücken. Der Tankwart quittierte das mit einem unverschämten Grinsen.
Wenig später saß Lynne wieder am Steuer.
Sie frühstückte in einem Kleinstadt-Gasthaus und erreichte gegen Vormittag die Küste. Sie hatte sich inzwischen entschieden, Gradys Angebot anzunehmen und zwar schon allein deswegen, weil sie hundemüde war und dringend ein paar Stunden Schlaf brauchte.
Volle anderthalb Stunden fuhr sie in und um die Stadt Poole herum, fragte mehrfach und kaufte sich schließlich in einer kleinen Buchhandlung einen Stadtplan. So war es schon fast Mittag, als sie Gradys Haus erreichte.
Es lag wirklich sehr einsam. Ganz in der Nähe war die Steilküste und das Meer, dessen Rauschen man Tag und Nacht hören konnte.
Es war ein diesiger Tag.
Nebel zog vom Ärmelkanal herauf.
Lynne parkte ihren Wagen neben der niedrigen Hecke, die das zum Haus gehörende Grundstück von der Straße trennte, die eigentlich kaum mehr als eine befestigte Piste war. Lynne ging zur Haustür und fand den Schlüssel unter dem Stein neben dem Eingang.
Es war alles, wie Grady gesagt hatte.
Sie öffnete und trat ein.
Das Haus hatte eine Küche, ein Schlafzimmer und einen Wohnraum. Telefon gab es auch.
Schön, dachte Lynne. Ein wirklich netter Ort, um Ruhe und Erholung zu finden. Wenn nur die Umstände andere gewesen wären, unter denen sie hier war...
Einen Augenblick lang überlegte sie, Grady anzurufen. Aber dann wurde ihr klar, dass er um diese Zeit sicher noch im Bett lag und schlief.