Dunst lagert. Über allem wölbt sich der unbegrenzte, tiefblaue, sternenbesäte Himmel, an dem der Vollmond durch den Äther segelt.
Aber im Süden liegt tief unten das Tageslicht, ein Widerschein der Sonne, dunkel, rot glühend, und höher hinauf ein klarer, gelber und blassgrüner Bogen, der sich in das Blau darüber verliert. Das Ganze verschmilzt zu einer Harmonie, einzigartig und unbeschreiblich.
Ich wünsche mir die Gabe, diese Natur in Musik zu übertragen; mächtige und doch schlichte Akkorde müssten es sein, die ihr Wesen wiedergeben könnten!
Freitag, 16. November. Vormittags war ich mit Sverdrup auf Schneeschuhen im Mondlicht draußen. Wir unterhielten uns ernstlich über die Aussichten unserer Drift und der für das Frühjahr geplanten Expedition über Eis nach Norden.
Ich habe viel über den Kurs nachgedacht, den wir einschlagen müssten für den Fall, dass uns die Drift bis zum März nicht so weit nördlich bringt, wie ich erwarte. Je mehr ich darüber nachsinne, desto fester rede ich mir ein, dass sich die Sache machen lässt.
Denn wenn es richtig ist, von 85° aus aufzubrechen, so kann es nicht weniger richtig sein, von 82° oder 83° aus loszugehen. In beiden Fällen würden wir nördlicher kommen als sonst möglich. Wenn wir den Pol selbst nicht erreichen, müssen wir eben umkehren. Um es zu wiederholen: Es kommt nicht darauf an, genau den Punkt zu gewinnen, sondern die unbekannten Gebiete des Polarmeeres zu erforschen, mögen sie dem Pol näher oder ferner liegen. Ich habe das schon vor unserer Abfahrt gesagt und muss es beständig im Gedächtnis behalten.
Sicher sind während der weiteren Drift des Schiffes an Bord viele wichtige Beobachtungen zu machen. Diese Arbeiten liegen in so guten Händen, dass zwei von unserer Schar das Schiff ohne Schaden für die Güte und Vollständigkeit der Registrierungen verlassen können. Zweifellos werden die Beobachtungen, die wir weiter nördlich vornehmen werden, nicht weniger wertvoll sein als diese Bordnotierungen. Bis jetzt ist es also durchaus wünschenswert, dass wir aufbrechen.
Welches ist die beste Zeit zum Aufbruch? Die beste und die einzige Jahreszeit für ein solches Wagnis ist das Frühjahr, spätestens der März.
Und wie sind die Aussichten für unser Durchkommen?
Die Entfernung von dem gedachten Abgangspunkt nach Kap Fligely auf dem nächsten bekannten Land schätze ich auf 750 Kilometer, also nicht viel mehr als die Strecke, die wir in Grönland zurückgelegt haben; sie würde auf diesem Eis leichte Arbeit fordern. Hat man erst einmal die Küste erreicht, dann wird es einem vernünftigen Menschen sicherlich gelingen, durch die Jagd auf großes oder kleines Wild, Bären oder Sandhüpfer, sein Leben zu fristen.
Wir können uns also stets nach Kap Fligely oder dem nördlich davon liegenden Petermann-Land wenden, falls unsere Lage unhaltbar wird. Selbstverständlich wird die Entfernung sich vergrößern, je weiter wir nach Norden vordringen; an keinem Punkt zwischen hier und dem Pol ist sie aber größer, als wir sie mithilfe der Hunde bewältigen können und werden.
Daher ist eine »Rückzugslinie« gesichert, obwohl manche Leute behauptet haben, dass eine öde Küste, an der man die Lebensmittel erst zusammensuchen muss, ehe man sie verzehren kann, ein schlechter Zufluchtsort für Hungernde ist. In Wirklichkeit ist das nur ein Vorteil; denn ein Zufluchtsort soll nicht allzu verlockend sein. Für Männer, die vorwärtsdringen wollen, ist eine »Rückzugslinie« wahrlich eine erbärmliche Erfindung, ein ewiger Anreiz zurückzublicken, während sie immer nur vorwärtsschauen sollten.
Nun zur Expedition selbst. Sie wird aus 28 Hunden, 2 Männern und 1050 Kilo Proviant und Ausrüstungsgegenständen bestehen. Die Entfernung vom 83. Grad bis zum Pol beträgt 420 Seemeilen, 780 Kilometer. Ist es zu viel, wenn ich rechne, dass wir diese Strecke in 50 Tagen zurücklegen?
Ich weiß natürlich nicht, ob die Hunde ausdauern werden; aber dass sie, wenn zwei Männer helfen, mit 37½ Kilo in den ersten Tagen täglich 8½ Seemeilen, also 15 Kilometer, zurücklegen, klingt ganz vernünftig, selbst wenn es keine sehr guten Tiere sind.
Es ist also kaum eine leichtsinnige Rechnung, immer vorausgesetzt, dass das Eis so ist wie hier, und es ist kein Grund vorhanden, weshalb es nicht so sein sollte. Es bessert sich in der Tat beständig, je weiter wir nach Norden gelangen, und es bessert sich mit jedem Tag, den wir dem Frühling näher kommen.
In 50 Tagen müssten wir also den Pol erreichen. In Grönland haben wir auf dem Inlandeis in einer Höhe von mehr als 2500 Metern, ohne Hunde und mit mangelhaftem Proviant, 300 Seemeilen, 550 Kilometer, in 65 Tagen gemacht und hätten sicherlich noch beträchtlich weiter gehen können.
In 50 Tagen werden wir, täglich ein halbes Kilo Pemmikan für jeden Hund4 gerechnet, insgesamt 700 Kilo verbraucht haben. Ferner macht 1 Kilo Proviant für jeden Mann 100 Kilo aus.
Da während dieser Zeit auch Brennstoff verbraucht wird, verringert sich die Fracht auf dem Schlitten auf weniger als 250 Kilo; eine solche Last ist nichts für 26 Hunde, die damit am Ende wie ein Sturmwind dahinsausen und also die Fahrt in weniger als 50 Tagen machen müssten.
Aber angenommen, man braucht diese Zeit. Wenn alles gut gegangen ist, werden wir unseren Kurs nunmehr nach den Sieben Inseln im Norden von Spitzbergen richten; das sind 9° oder 540 Seemeilen, 1000 Kilometer. Bei ungünstigen Verhältnissen wird es sicherer sein, wenn wir zum Kap Fligely oder dem nördlich davon liegenden Lande gehen.
Nehmen wir an, wir würden uns für diesen Weg entscheiden!
Wir brechen am 1. März, wenn die Verhältnisse günstig sind, noch früher, von der »Fram« auf und kommen am 30. April am Pol an. Wir werden dann noch 100 Kilo von unserem Proviant, genug für weitere 50 Tage, übrig haben, für die Hunde aber nichts mehr. Wir müssen sie also nach und nach töten, teils zum Futter für die Übrigen, teils für uns selbst, sofern wir ihnen von unseren Vorräten abgeben. Auch wenn meine Ziffern zu niedrig gegriffen sind, kann ich doch annehmen, dass wir dann, wenn 23 Hunde getötet sind, 41 Tage unterwegs sind und noch 5 Hunde übrig haben.
Wie weit südlich werden wir dann gekommen sein?
Das Gewicht des Gepäcks beträgt im Anfang weniger als 250 Kilo, also nicht ganz 9 Kilo, die jeder Hund zu ziehen hat. Nach 41 Tagen wird sich dieses Gewicht auf 140 Kilo verringert haben, und zwar durch den Verbrauch von Proviant und Brennstoff und durch Zurücklassen gewisser Ausrüstungsgegenstände wie Schlafsäcke, Zelt usw., die überflüssig geworden sind.
Es bleiben dann noch 28 Kilo für jeden der 5 Hunde, wenn wir selbst nichts ziehen. Mit einer Last von 9 bis 18 Kilo für jeden Hund würden die Tiere täglich 12 Seemeilen, 22 Kilometer, machen, selbst wenn die Schneefläche beschwerlich wäre.
Das heißt, wir werden am 1. Juni 492 Seemeilen, 913 Kilometer, über Kap Fligely hinaus sein und noch 5 Hunde und für 9 Tage Proviant haben.
Wahrscheinlich aber werden wir schon lange vorher Land erreicht haben. Die Mitglieder der österreichischen Expedition hatten schon in der ersten Hälfte des April bei Kap Fligely offene Teiche und viele Vögel gefunden. Wir würden also im Mai und Juni keinen Mangel an Nahrung haben und wundern müsste es mich, wenn wir nicht vorher schon einen Bären, einen Seehund oder einige verirrte Vögel träfen.
Wir haben nunmehr unsere Sicherheiten und wir können wählen, welchen Weg wir einschlagen wollen: entweder an der Nordwestküste von Franz-Joseph-Land entlang, an Gillis-Land vorbei nach dem Nordostland und Spitzbergen oder südwärts durch den Austria-Sund nach der Südküste von Franz-Joseph-Land und von dort nach Nowaja Semlja oder Spitzbergen. Es ist möglich, dass wir auf Franz-Joseph-Land Engländer treffen.
Das ist also meine Berechnung. Ist sie leichtfertig? Ich glaube nicht.
Das einzige Schlimme würde sein, wenn wir auf der letzten Marschstrecke im Mai die Eisoberfläche so finden, wie wir sie im vorigen Frühjahr Ende Mai hier gehabt haben. Das würde uns beträchtlich aufhalten.
Wenn sich zeigt, dass unsere Berechnungen Fehler enthalten, können wir immer noch jeden Augenblick umkehren.
Welche unvorhergesehenen Hindernisse können sich uns nun entgegenstellen?
1. Wir können auf Eis treffen, das unwegsamer