kommen.
Dasselbe, was ich von mir gesagt habe, kann ich auch von meinen Gefährten behaupten: Sie sehen sämtlich gesund und wohlgenährt aus und sind es auch. Da ist keins jener blassen, hohlwangigen Gesichter, da ist keine Niedergeschlagenheit. Und wer es bezweifelt, müsste nur das Gelächter im Salon hören und uns beim Kartenspiel zusehen.
Woher sollte auch wohl Krankheit kommen? Bei der allerbesten Nahrung, die so abwechslungsreich ist, dass selbst der Wählerischste ihrer nicht überdrüssig wird; bei guter Wohnung, guter Kleidung, Bewegung in der freien Luft nach Belieben, bei Arbeit, die eher Vergnügen als Anstrengung ist, bei lehrreichen und fesselnden Büchern, Erholung bei Karten-, Schach-, Domino- und Halma-Spiel, bei Musik und Geschichtenerzählen – wie könnte da wohl jemand krank werden? Hin und wieder höre ich eine Bemerkung, dass man vollauf mit dem Leben zufrieden ist. Das ganze Geheimnis liegt in der vernünftigen Anordnung der Dinge.
Was meiner Ansicht nach eine besonders gute Wirkung auf uns ausübt, ist, dass wir alle zusammen in einem Salon leben und alles allen gemeinsam ist. Soviel ich weiß, ist dies das erste Mal, dass ein solcher Versuch gemacht worden ist, er ist sehr zu empfehlen.
Sonntag, 31. Dezember. Letzter Tag des Jahres. Es ist ein langes Jahr gewesen und es hat Gutes und Schlimmes gebracht. Es fing mit Gutem an, es schenkte mir mit Klein Liv ein Glück so neu, so seltsam, dass ich anfangs gar nicht daran glauben mochte. Schwer war dann der Abschied: Seitdem ist mir die ganze Zeit ein einziges, sehnsüchtiges Verlangen gewesen.
Endlich bist du doch abgetan, altes Jahr! Du hast uns nicht so weit gebracht, wie du hättest sollen, und doch hättest du es noch schlimmer machen können, du bist trotz alledem nicht so ganz schlecht gewesen. Sind nicht unsere Hoffnungen und Berechnungen gerechtfertigt worden und treiben wir jetzt nicht gerade da, wo ich es gewünscht und gehofft hatte? Nur eins war verkehrt – ich habe nicht gedacht, dass die Drift in so vielen Zickzackzügen vor sich gehen würde.
Einen schöneren Silvesterabend hätte es nicht geben können. Das Nordlicht erstrahlt in wundervollen Farben und Lichtstreifen über dem ganzen Himmel, namentlich aber im Norden. Tausende von Sternen funkeln zwischen dem Nordlicht am blauen Firmament. Nach allen Seiten dehnt sich das Eis endlos und schweigend in die Nacht hinaus; die reifbedeckte Takelung der »Fram« hebt sich scharf und dunkel gegen den leuchtenden Himmel ab.
Montag, 1. Januar 1894. Es ist schönes, klares Wetter, 38°C unter null.
Ich liege in meiner Koje, schreibe, lese und träume. Es ist immer ein seltsames Gefühl, wenn man zum ersten Mal die Zahl des neuen Jahres schreibt. Dann erst erfasst man die Tatsache, dass das alte Jahr der Vergangenheit angehört, dass das neue Jahr da ist und man bereit sein muss, sich mit ihm herumzubalgen. Wer weiß, was es bringen wird? Gutes und Schlimmes ohne Zweifel, aber meist Gutes, und das kann doch nur sein, dass wir unserem Ziel und der Heimat entgegengehen. Ja, führe uns, wenn nicht an unser Ziel – das würde noch zu früh sein –, so doch wenigstens in seiner Richtung! Stärke unsere Hoffnung, aber vielleicht – nein, kein vielleicht!
Meine wackeren Jungen verdienen Erfolg. In ihren Gedanken herrscht kein Zweifel. Sie vertrauen mir und meinen Theorien. Ein jeder hat sein ganzes Herz darangesetzt nordwärts zu kommen; ich lese es in ihren Gesichtern, es glänzt aus jedem Auge. Wenn wir südwärts treiben, höre ich Seufzer der Enttäuschung, aber auch erleichtertes Aufatmen, wenn es wieder nach Norden geht.
Was aber, wenn ich mich getäuscht habe und sie in die Irre führe? Wir sind die Werkzeuge von Mächten über uns; wir sind unter glücklichen und unglücklichen Sternen geboren. Bis jetzt habe ich unter einem glücklichen Stern gelebt. Soll sein Licht verdunkelt werden? Ich bin nicht abergläubisch, aber ich glaube an meinen Stern.
1 Mit diesem seidenen Sacknetz, das von Booten oder Schiffen nachgeschleppt wird, fängt man die Tiere und Pflanzenorganismen in verschiedenen Tiefen. Wir gebrauchten es während unseres Treibens beständig, versenkten es in verschiedene Tiefen und brachten damit oft reiche Beute herauf.
2 Dieses Phosphoreszieren wird hauptsächlich von kleinen, leuchtenden Krustentieren (Copepoden) verursacht.
FRÜHJAHR UND SOMMER 1894
Sonntag, 14. Januar. Die Zeit verfliegt beinahe schnell und jeden Tag wird es heller. Gestern war das Eis ruhig, heute Morgen aber herrschte an verschiedenen Stellen wieder beträchtlicher Eisdruck. Ich machte einen weiten Marsch nach Südwesten und geriet mitten in die Pressungen hinein. Das Zusammenschieben begann gerade, wo ich stand, mit donnerndem Getöse unter mir und auf allen Seiten; ich sprang und rannte wie ein Hase, gerade als ob ich so etwas noch nie gehört hätte; es kam so unerwartet. Das Eis war im Süden merkwürdig flach; je weiter ich ging, desto flacher wurde es und dabei war die Oberfläche ganz vorzüglich für Schlittenfahrten geeignet. Auf solchem Eis könnte man täglich viele Meilen fahren.
Montag, 15. Januar. Je länger ich hier umherstreife und dieses Eis nach allen Richtungen hin ansehe, desto stärker erfasst mich ein Plan, mit dem ich in Gedanken schon lange umgegangen bin.
Mit Hunden und Schlitten musste es möglich sein, auf diesem Eis den Pol zu erreichen. Den Rückweg würde man dann in der Richtung auf Franz-Joseph-Land, Spitzbergen oder die Westküste von Grönland nehmen. Für zwei Leute könnte man es fast als eine leichte Expedition bezeichnen.
Allein, es würde voreilig sein, im Frühjahr aufzubrechen. Erst müssen wir sehen, welche Drift der Sommer bringt. Und wenn ich darüber nachdenke, halte ich es doch für zweifelhaft, ob es richtig wäre, mich zu entfernen und die anderen zu verlassen. Man denke sich nur, wenn ich nach Hause käme und sie nicht!
Und doch bin ich hierher gekommen, um die unbekannten Polargebiete zu erforschen; dafür haben die Norweger ihr Geld hergegeben und es ist sicher meine erste Pflicht zu tun, was ich kann. Ich muss die Drift noch einer längeren Probe unterziehen. Wenn wir aber nach einer verkehrten Richtung geführt werden, dann bleibt nichts anderes übrig, als den Polmarsch anzutreten, komme danach, was da wolle!
Dienstag, 16. Januar. Ist es die Ruhelosigkeit des Frühlings, die über den Menschen kommt? Der Wunsch nach Tätigkeit, nach etwas, was sich von diesem Leben unterscheidet? Ist die Menschenseele nichts weiter als eine Aufeinanderfolge von Stimmungen und Gefühlen, die sich so unberechenbar verändern wie der Wind? Vielleicht ist mein Gehirn übermüdet; Tag und Nacht sind meine Gedanken auf den einen Punkt gerichtet gewesen, auf die Möglichkeit, den Pol zu erreichen und wieder nach Hause zu kommen. Vielleicht ist es Ruhe, was ich brauche, um zu schlafen, zu schlafen! Fürchte ich mich, das Leben zu wagen? Nein, das kann es nicht sein.
Aber was hält mich sonst zurück? Vielleicht ein geheimer Zweifel, dass der Plan durchzuführen ist? Mein Geist ist verwirrt; alles ist in Unordnung geraten, ich bin mir selbst ein Rätsel. Ich bin abgenutzt und fühle doch keine besondere Ermüdung. Alles um mich herum ist Leere und mein Gehirn ist ein weißes Blatt. Ich schaue die Bilder aus der Heimat an und sie langweilen mich; ich blicke in die Zukunft und es kommt mir vor, als sei es mir ziemlich einerlei, ob ich in diesem oder im nächsten Herbst zurückkomme. Wenn ich schließlich überhaupt nur zurückkomme, scheinen mir ein oder zwei Jahre fast nichts zu sein.
So habe ich früher nie gedacht. Ich habe jetzt keinerlei Neigung zum Lesen, zum Zeichnen oder zu irgendeiner anderen Tätigkeit. Torheit! Soll ich versuchen, einige Seiten Schopenhauer zu lesen? Nein, ich will zu Bett gehen, obwohl ich nicht müde bin.
Das Einzige, was mir hilft, ist Schreiben, der Versuch, mich auf diesen Blättern auszusprechen und dann mich selbst gleichsam von außen her zu betrachten. Ja, das Leben des Menschen ist nichts als eine Aufeinanderfolge von Gemütsstimmungen, halb Erinnerung, halb Hoffnung.
Wenn ich auf das Bild blicke, das mein Haus in Lysaker im Abendlicht zeigt, meine Frau im Garten, so halte ich es für unmöglich, es hier noch viel länger auszuhalten. Aber nur die unbarmherzigen Schicksalsmächte wissen, wann wir dort wieder beisammen sein, die ganze Süße des Lebens wieder fühlen, wann wir über den lächelnden Fjord blicken werden und …
Wir stehen jetzt auf 80° n.B., im September waren wir auf 79° das ist – sage und schreibe – ein Grad in fünf Monaten. Wenn es mit dieser Geschwindigkeit weitergeht,