zu geraten. Wenn man somit die Verteilung der Vögel im Schwarmquerschnitt ansah, ergab sich folgendes Bild: direkt um einen vorgegebenen Vogel entstand eine ovale Form, festgelegt durch die nächsten Nachbarn. Die Form strebte immer mehr auf eine Kugel zu, je mehr Nachbarn man hinzunahm. Man konnte somit bestimmen, mit wie vielen anderen Vögeln unser Untersuchungsobjekt in klarer, maßgeblicher Verbindung stand. Die Antwort war, so die STARFLAG-Sprecher Irene Giardina und Andrea Cavagna, „sieben“. Warum grade sieben? Ein möglicher Grund für diese Zahl wäre, dass Stare nur bis sieben zählen könnten. Doch auch wenn unser Star, nennen wir ihn Anton, nicht weiter zählen kann, wendet er mit, wenn die 100 weiter entfernten Artgenossen eine Wende einleiten. Wie kann das geschehen? Ist das doch noch die von Edmund Selous propagierte Telepathie?
Zudem war die Sache noch etwas komplizierter: Die so wichtigen nächsten Nachbarn von Anton waren keineswegs immer gleich weit von ihm entfernt. Wichtig ist nicht der absolute Abstand, sondern der relative, im Vergleich zu den anderen Abständen. Das wird eben dann besonders wichtig, wenn sich alle Größen ständig verändern. So ist auch dann der nächste Nachbar von Anton der, der ihm wirklich näher ist als alle anderen, unabhängig davon, wie groß der tatsächliche Abstand ist. Wir können uns also den Schwarm insgesamt wie ein Gebilde einzelner Knoten (die Vögel) vorstellen, die miteinander durch elastische Bänder verknüpft sind. Solche Strukturen sind seit mehr als 100 Jahren ein zentrales Forschungsthema der statistischen Physik, und deshalb werden wir uns im nächsten Kapitel diesem Bereich zuwenden. Hier aber sollten wir noch auf eine Frage hinweisen, zu der es bisher eigentlich keine Antwort in irgendeiner Form gibt.
Warum formieren sich die Stare allabendlich zu diesen Kunstflügen? Wir kennen keinen Grund dafür. Freuen sie sich einfach über ihr Dasein und einen gut überstandenen Tag? Die Schwarmbildung bei Fischen verringert wohl für jeden einzelnen die Gefahr, einem Raubtier zum Opfer zu fallen, und somit bleibt der Scharm bestehen. Auch Antilopenherden sind gemeinsam sicherer, da mehr Aufpasser da sind, und Insektenschwärme suchen gemeinsam nach Nahrung; so haben all diese anderen Schwärme irgendeine Funktion. Nur die Stare scheinen ihren gemeinsamen Gute-Nacht-Flug einfach zu genießen ...
Eine weitere interessante Größe ist die sogenannte Korrelationsreichweite im Schwarm. Wenn sich der Schwarm ausdehnt, gibt es eine Menge von nach rechts fliegenden Vögeln auf der rechten Seite und eine entsprechende nach links fliegende Menge auf der linken Seite. Das Gegenteil liegt vor, wenn der Schwarm sich zusammenzieht. Man kann also eine imaginäre Trennlinie durch den Schwarm ziehen, die die in sich korrelierten linken und rechten Mengen definiert (Abb. 4.3). Es zeigte sich nun, dass die so festgelegten „Korrelationsmengen“ mit zunehmender Schwarmgröße auch immer größer wurden: Je größer der Schwarm, desto mehr
Abb. 4.3 Korrelationsbereiche in einem Schwarm (nach Ballerini et al. 2008).
Vögel waren miteinander auf diese Weise korreliert, obwohl doch jeder Vogel nur mit seinen sieben nächsten Nachbarn in direkter Verbindung stand.
Eine dritte wichtige Messgröße für die Vogelschwärme ist die sogenannte Polarisation. Sie gibt die Flugrichtung des Schwarms an und ergibt sich, wenn man über die Flugrichtungen aller einzelnen Vögel mittelt. Wenn sich der Schwarm zum Fressen am Boden aufhält und jeder Vogel mal hier, mal dort etwas aufpickt, ist die Polarisation null – es gibt keine bevorzugt Richtung; Physiker sprechen dann von Rotationsinvarianz. Werden die Vögel plötzlich erschreckt, etwa durch einen lauten Knall, fliegen sie alle auf und davon in einer bestimmten Richtung: Die Polarisation hat jetzt einen endlichen, von null verschiedenen Wert. Wenn alle Vögel parallel zueinander fliegen, wird sie eins. Die spezielle Flugrichtung ist dabei unwichtig; a priori kann sie beliebig sein. Kritisch ist nur, dass alle die gleiche Richtung wählen. Physiker nennen das spontane Symmetriebrechung – spontan, weil niemand die Vögel in die gleiche Richtung zwingt und ihnen auch keine Richtung vorgibt.
Einen wesentlichen Aspekt der Schwarmbewegung haben wir schon angedeutet, wir wollen aber noch einmal darauf zurückkommen. Wenn der Schwarm wendet, betrifft das Vögel, die viel weiter voneinander entfernt sind als der Abstand, bei dem sie sich direkt beeinflussen, also sich tatsächlich sehen können. Das ist ja gerade, was die Schwarmbildung so faszinierend macht: Durch kurzreichweitige Signale zwischen je zwei benachbarten Vögeln wird ein viel langreichweitiger Effekt erzielt – der ganze Schwarm wendet. Diese Erscheinung, das Entstehen von globalen Effekten durch sehr lokale Auslöser, das ist vielleicht die Grundlage überhaupt für eine Schwarmtheorie.
Etwas ganz Ähnliches hat man auch in Säugetierherden beobachtet. In der Serengeti in Afrika ziehen jährlich riesige Gnuherden zwischen Sommer- und Winterweidegründen hin und her, Herden von bis zu 100 000 und mehr Tieren (Abb. 4.4). Diese Herden brechen auf breiter Front auf, nur entwickelt diese Front mit der Zeit eine Form von Wellenstruktur. Auch hier stehen nur wirklich benachbarte Tiere in direktem Kontakt miteinander, und trotzdem ist die Wellenlänge, der Abstand zwischen Berg und Tal der Wellen, sehr viel größer, wie man in Abb. 4.4 sieht.
Man hat festgestellt, dass ein solches Verhalten durch drei einfache „lokale“ Regeln erzeugt werden kann:
1 Jedes Tier beschleunigt oder verlangsamt seinen Gang, wenn sein Nachbar das tut.
2 Wenn ein Tier weiter als eine bestimmte Entfernung zurückfällt, holt es wieder auf.
3 Wenn ein Tier weiter als eine bestimmte Entfernung vorauseilt, bremst es wieder ab.
Abb. 4.4 Ziehende Gnuherde in der Serengeti (Sinclair 1977).
Diese Regeln reichen um die Wellenstruktur der Gnufront zu erzeugen. Irgendwelche Störungen veranlassen ein Tier, kurzfristig zu beschleunigen oder zurückzufallen. Bei Einhaltung der Regeln entsteht daraus dann die beobachtete Wellenstruktur – und die ergibt nicht etwa Variationen von der Größe der örtlichen, für das einzelne Tier maßgeblichen Änderungsentfernung, sondern viel größere Wellen. Deren Wellenlänge wird bestimmt durch die Dichte der Herde und ist wesentlich größer als die Sichtweite der Einzeltiere. Auch hier finden wir wieder, dass ein lokales, kurzreichweitiges Verhalten globale, langreichweitige Konsequenzen hat. Wir werden sehen, dass das nicht nur einen wesentlichen Aspekt der Schwarmbildung darstellt, sondern dass es auch ein grundlegendes Ergebnis in der statistischen Physik ist.
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