Helmut Satz

Heuschrecken haben keinen König


Скачать книгу

In den gerade vergangenen Jahren sind auf Madagaskar Schwärme mit bis zu 500 Milliarden Tieren eingefallen. Da jedes Tier pro Tag etwa das Doppelte seines Körpergewichts vertilgt, fallen den Schwärmen täglich über 100 000 t Pflanzen zum Opfer; das kann die Nahrungsgrundlage der gesamten Bevölkerung zerstören. Was sind das für Tiere?

      Eine Heuschrecke ist zunächst ein ungeselliges Wesen, das den Kontakt zu Artgenossen scheut und friedlich seiner Wege geht. Heuschrecken paaren sich und trennen sich dann wieder. Das Weibchen legt Eier, und aus diesen gehen Larven hervor (die Biologen sprechen von Nymphen), die bereits wie richtige kleine Grashüpfer aussehen, nur dass ihre Flügel kaum entwickelt sind. Im Laufe der Zeit, in einigen Wochen, werden sie sich noch etliche Male häuten, bevor sie schließlich als vollständig erwachsen auch Flügel haben und fliegen können (Abb. 2.2). Schon die noch flugunfähigen Nymphen aber wandern bereits umher und suchen pflanzliche Nahrung, Gräser und Blätter.

      Problematisch wird das Ganze erst durch eine hin und wieder auftretende Verkettung von klimatischen Umständen. Wenn in den Lebensgebieten der Heuschrecken, etwa den trockenen Steppen in Nordafrika oder Vorderasien, ungewöhnlich starke Regenfälle plötzlich eine üppige Vegetation entstehen lassen, so explodiert die Heuschreckenpopulation. Aus den Eiern, die zunächst im trockenen Sand abgelegt waren, schlüpfen in dem nun feuchten Grund in kurzer Zeit riesige Mengen von Heuschrecken. Diese fressen als Larven alles Verfügbare um sich herum, und irgendwann wird damit die Nahrung knapp. Dann bringt die Suche notgedrungen mehr und mehr Tiere auf immer engerem Raum zusammen. Zunächst stößt das auf gegenseitige Abneigung, aber schließlich, wenn mehr als etwa 70–80 Heuschrecken auf einem Quadratmeter zusammengedrängt sind, geschieht plötzlich eine ganz dramatische Verwandlung. Aus der starken Abneigung wird eine intensive Zuneigung, aus der solitären Heuschrecke wird ein überzeugtes Schwarmtier: Alle drängen sich zusammen, und sobald sich ein Tier zufällig vom Schwarm entfernt, dreht es erschreckt um und kehrt zurück. Der Schwarm ist geboren, ausgelöst, wie es scheint, nur durch die kritische Dichte der Tiere.

      Abb. 2.2 Entwicklung einer Heuschrecke von der Larve („Nymphe“) bis zum ausgewachsenen Tier.

      Natürlichmussesdabei auch noch einen nachweisbaren physiologischen Auslöser für den plötzlichen Charakterumschwung geben, und den haben Wissenschaftler inzwischen tatsächlich identifiziert. Die Anwesenheit und Berührung von vielen nächsten Nachbarn löst in den Tieren einen Serotoninstoß aus, der Entspannung und Anziehung hervorruft – in der Presse wurde Serotonin zeitweilig als das Glückshormon bezeichnet. Bei den Heuschrecken konnte man dessen Rolle nachprüfen: Serotonininjektionen erzeugten auch bei isolierten Tieren Zuneigung zu Artgenossen, und bei aus dem Schwarm entfernten Tieren sank der Serotoninspiegel mit der Zeit wieder. Diese Erklärung ist natürlich aus biologischer Sicht von großer Bedeutung; sie ändert aber nichts daran, dass in der Natur einzig und allein eine genügende Bevölkerungsdichte die Schwarmbildung hervorruft.

      Inzwischen hat man viele Spezies von Heuschrecken identifiziert, auf allen Kontinenten der Erde (außer der Antarktis), und alle zeigen diese angeborene Möglichkeit, in zwei gänzlich verschiedenen Zustandsformen zu existieren. Die Dichte der Mitglieder bestimmt den biologisch definierten Zustand und damit auch das Aussehen des Einzelnen. Um die kritische Dichte genauer zu bestimmen hat eine Gruppe von Wissenschaftlern (J. Buhl et al. 2006) ein ausführliches Experiment mit Nymphen durchgeführt, also Heuschrecken, die noch nicht fliegen konnten. Verschiedene Anzahlen dieser Tiere wurden in eine kreisförmige Arena gesetzt und mithilfe von Videokameras und Computern über längere Zeiträume beobachtet. Man fand dabei, dass bis zu Dichten von 10–15 Tieren pro Quadratmeter die Einzeltiere willkürlich umherkrochen und einander überhaupt nicht beachteten. Wenn die Dichte erhöht wurde, begannen die Insekten kleine Gruppen zu bilden, wobei sich die Mitglieder der Gruppe in einem kleinen Kreis bewegten; alle liefen in die gleiche Richtung. Die verschiedenen Gruppen bewegten sich jedoch völlig unabhängig voneinander. Dieses Verhalten änderte sich erst ab etwa 75 Insekten pro Quadratmeter. Von da an fanden sich die verschiedenen Gruppen zu einem großen Kreis zusammen, und alle marschierten nun in diesem Kreis in der gleichen Richtung für die gesamte Dauer des Experiments.

      Um die Schwarmbildung etwa zu untersuchen, ist es nützlich, das eben erwähnte Ergebnis etwas zu quantifizieren (Abb. 2.3). Die Heuschrecken bewegten sich in einer runden Arena, und dabei liefen Nc im Uhrzeigersinn und Ncc im entgegengesetzten Sinne, sodass Nc + Ncc = N. Die Differenz NcNcc gibt uns dann an, ob eine bevorzugte Richtung vorliegt, und wenn wir diese Differenz durch die Gesamtzahl der Teilnehmer teilen, erhalten wir ein Maß für so eine Ordnung,

      Die vertikalen Striche, wie bei |x|, deuten hier an, dass wir uns nur für die größe der Differenz interessieren und nicht, ob sie positiv oder negativ ist: In mathematischer Terminologie betrachten wir den Absolutwert. Wenn sich die einzelnen Tiere oder die einzelnen Gruppen willkürlich umherbewegen, marschieren gleich viele im Uhrzeigersinn wie entgegengesetzt, sodass Δ = 0. Im anderen Extremfall, wenn alle Tieren in die gleiche Richtung laufen, haben wir Δ = 1. Bei vollständiger Unordnung ist somit Δ = 0, bei vollständiger Ordnung Δ = 1. Wenn man nun das Verhalten der Heuschrecken als Funktion der Anzahl von Tieren pro Quadratmeter aufträgt, so erhält man den in Abb. 2.3 dargestellten Verlauf des Ordnungsmaßes, mit einem plötzliche Einsetzen der Schwarmbildung bei etwa 75 Tieren. So ein Verhalten ist in der Physik wohlbekannt. Die Dichte von Wasser ändert sich schlagartig bei 100 °C: Dort verwandelt die Verdampfung die Flüssigkeit in Wasserdampf. Solche Vorgänge bezeichnet man allgemein als Phasenübergänge; sie zeigen an, dass sich die Form der Materie von einem Zustand (Flüssigkeit) in einen anderen (Gas) umgewandelt hat. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, erfahren die Heuschrecken bei einer Dichte von 75 Tieren pro Quadratmeter einen Phasenübergang vom Einzeldasein zum Schwarm.

      Abb. 2.3 Ordnungsmaß Δ als Funktion der Anzahl N von Insekten pro Quadratmeter (nach Buhl et al. 2006).

      Es gibt dabei also einen tipping point, einen Dichtewert, bei dem sich alles ändert. Wie kann so etwas zustande kommen? Der Übergang von solitärer Existenz zum geselligen Schwarmleben bei Heuschrecken ist offensichtlich ein biologischer Vorgang, eine Änderung im Verhalten von Lebewesen. Aber das Entstehen zusammenhängender, dicht gepackter Haufen von Einzelteilen ist etwas eher Geometrisches. Kann man das Entstehen von Verbindungen, von Zusammenhang irgendwie als ein mathematisches Modell formulieren? Das wollen wir jetzt als Erstes näher untersuchen. In weiteren Kapiteln werden wir dann anhand anderer Tierarten darauf eingehen, wie eine Kommunikation zwischen den einzelnen Mitgliedern des Schwarms möglich ist und wie sich ein Schwarm in seiner Fortbewegung koordinieren kann.