Stefan Mühlfried

Blaulichtmilieu


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hinten. Also weg von …« Sie sah flüchtig über die Schulter zum Ort der Explosion. »Ich glaube, sie haben es geschafft. Ich hoffe es.«

      Marie biss die Zähne zusammen. Ja, schön, das hoffte sie auch. Jetzt vielleicht mal was Relevantes? Ihnen lief die Zeit davon!

      »An der Stelle, wo die Explosion war«, sprang Harald ein, »ist Ihnen da etwas aufgefallen? Geräusche, Bewegungen, Personen?«

      Marie entspannte sich. Auf Harald war Verlass.

      »Ja, der Herr, bei dem wir gerade waren. Der, den die Rettungswagenleute behandelt haben.«

      Tim. Tim hieß der Knackar…, der Feuerwehrmann. Sie erinnerte sich. Oh Mann.

      »Sie sagten, dieser Herr stand direkt bei der Explosion?«, fragte sie.

      »Ja. Er hat mit einem anderen Mann um einen Koffer gestritten.«

      »Gestritten?«

      »Sie haben beide an dem Koffer gezogen. Und sich angeschrien.«

      »Wem gehörte der Koffer denn?«, fragte Harald.

      Die Stewardess zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

      »Wer war der andere Mann?«

      »Ich weiß es nicht. Es war ein Türke, ein älterer Mann.«

      »Und dann ist die Bombe explodiert?«

      »Ein paar Sekunden später, ja.«

      »Konnten Sie sehen, wo genau die Explosion war? War es vielleicht der Koffer?«

      »Nein, ich musste mit dem Check-in weitermachen. Einer der Koffer der Familie war auf dem Band hängen geblieben, und ich bin ein Stück nach hinten gegangen, um ihm einen Schubs zu geben. Dazu habe ich mich runtergebeugt. In dem Moment hat es diesen gewaltigen Schlag gegeben. Mich hat es einfach umgeworfen, ich bin aufs Gepäckband gefallen, alles um mich herum ist zusammengekracht und überall war Qualm und …« Sie stockte und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich lebe nur noch, weil ein Koffer geklemmt hat. Verstehen Sie das? Ich wäre tot, wenn nicht … Da vorne war der Infoschalter. Was ist mit Dorothee passiert? Die hatte heute Morgen Dienst. Ist sie …«

      Vom ehemals halbrunden Infoschalter an der Stirnseite der Check-in-Reihe war nichts als Trümmer übrig. Marie schaute kurz hin und sah Holz, Stahl und Blut. »Ich weiß es nicht«, sagte sie leise und räusperte sich. »Sie haben also nicht gesehen, wo genau die Explosion …«

      Harald stieß ihr den Ellenbogen in die Rippen.

      Marie räusperte sich abermals. »Gut, das wäre fürs Erste alles. Hier ist meine Visitenkarte, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Ich werde Sie in den nächsten Tagen anrufen. Vielen Dank.«

      Geistesabwesend nahm die junge Frau die Karte und ging ohne einen Gruß. Marie konnte es ihr nicht übel nehmen.

      »Meinst du, die Bombe steckte in dem Koffer?«, fragte Harald.

      »Das wird die Spurensicherung herausfinden.«

      »Was sagt dein Instinkt?«

      »Dass sie in dem Koffer war.«

      »Ja, das glaube ich auch. Aber was hat es mit diesem Streit auf sich?«

      »Meine Vermutung: Einer der beiden war der Bombenleger, und der andere wollte ihn stoppen.«

      »Oder beide dachten, der Koffer gehöre ihnen.«

      »Ausgerechnet der mit einer Bombe drin?«

      Harald zuckte die Schultern. »Schon Pech irgendwie.«

      »Wissen wir, wer der türkische Mann war?«

      »Noch nicht. Es scheint aber keinen Verletzten zu geben, auf den die Beschreibung passt.«

      »Also tot?«

      »Schauen wir mal.«

      Sie gingen zur Leichensammelstelle. Harald deutete auf einen Leichnam. »Der da könnte es sein.«

      Der Tote hatte offensichtlich die volle Wucht der Explosion abbekommen. Vom Gesicht war nicht mehr viel übrig, ebenso wie vom Rest der vorderen Körperseite. Harald reichte Marie ein Paar Einmalhandschuhe. Sie seufzte, zog sie an und durchsuchte die Taschen des Toten – oder was davon übrig war.

      In der Brusttasche des Jacketts wurde sie fündig. Mit spitzen Fingern holte sie eine schwer beschädigte, blutige Brieftasche hervor. Sie klappte sie auf. »Hier ist ein Personalausweis.«

      »Türkisch?«

      »Deutsch. Ibrahim … Den Rest kann ich nicht lesen. Geboren 57.«

      »Kannst du die Ausweisnummer entziffern?«

      Marie nickte und las sie vor.

      Harald schrieb sie auf, zog sein Mobiltelefon heraus und wählte eine Nummer. »KHK Grossmann, LKA 41«, sagte er. »Ich habe hier eine Perso-Nummer, dazu bräuchte ich Name, Anschrift, Strafregister. Ja, kann losgehen.« Er schrieb, bedankte sich und legte auf.

      »Ibrahim Kabaoglu«, sagte er. »Wohnt in Wilhelmsburg. Verheiratet, ein Sohn, eine Tochter. Keine Einträge.«

      Marie sah auf den Toten hinunter und runzelte die Stirn. »Glaubst du, ein unbescholtener Familienvater wird auf einmal zum Bombenleger?«

      »Bist du jetzt nicht ein bisschen voreilig?«

      »Hast du mich nicht nach meinen Instinkten gefragt?«

      Harald schüttelte langsam den Kopf. »Ist das Instinkt oder Vorurteil?«

      Marie seufzte. »Ich weiß es nicht. Aber wir werden diese Frage sehr schnell beantworten müssen. Dir ist klar, was morgen in der Bild-Zeitung stehen wird, oder?«

      »Die ›Bild‹ interessiert mich nicht. Was mich interessiert, ist –«

      Marie hob den Arm und winkte. »He, hierher!«, rief sie und lief los.

      Harald Grossmann seufzte.

      Marie stoppte die drei Männer in orangen Overalls, die mit einer Trage und Notfalltaschen beladen durch eine der rückwärtigen Türen in die Halle traten und sich suchend umblickten.

      Sie zeigte ihren Dienstausweis. »Schwartz, Kriminalpolizei. Die leitende Notärztin hat uns gebeten, Ihnen einen Patienten mit hoher Priorität zu übergeben.«

      Der Notarzt – ein älteres Semester mit gepflegtem grauem Bart – sah sie über den Rand seiner Nickelbrille prüfend an. »Machen Sie neuerdings Botengänge für die Notärzte?«

      »Nur ausnahmsweise. Es ist wirklich dringend.«

      Er nickte knapp. »Zeigen Sie mal.«

      Gemeinsam liefen sie zu Boskop. »Der da«, sagte Marie.

      »Provisorisch drainierter Spannungspneu, Verdacht auf Milzriss«, brüllte jemand über den Lärm hinweg. Es war Tim, der neben einem anderen Patienten aufgestanden war und auf Boskop deutete. Die Finger seines Latexhandschuhs waren blutrot. »Dormicum und Ketanest sind drin. Schnappt ihn euch und gebt Gas, dann hat er noch eine Chance!«

      Mit geübten Bewegungen untersuchte der Notarzt den Mann, dann nickte er seinen Kollegen zu. »Er hat recht. Das muss jetzt schnell gehen. Pit, lauf los und bereite den Start vor.«

      Der Hubschrauberpilot nickte knapp. »Anmeldung in der Unfallklinik Boberg?«, fragte er.

      »Ja. 20 bis 30 Prozent Verbrennungen zweiten und dritten Grades und Polytrauma.«

      Der Pilot eilte davon. Der Arzt tauschte die leere Infusion gegen einen frischen Beutel und hob den Patienten gemeinsam mit seinem Sani auf die Trage. »Vier Mann, vier Ecken. Rollen geht hier nicht«, sagte er.

      Marie und Harald packten mit an, und zu viert trugen sie den Patienten, so schnell es ging, über die Trümmer zu einem Durchgang in der Rückwand der Halle. Kaum hatten sie ihn passiert, war es, als träten sie in eine andere Welt: glänzender Steinfußboden,