Stefan Mühlfried

Blaulichtmilieu


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Kamera zoomte auf den zerstörten Check-in-Schalter. Genau dort. Genau dort hatten sie sich verabschiedet. Genau dort war nun eine riesige, halb eingetrocknete Blutlache.

      Das Telefon klingelte, aber es drang nicht zu ihm durch. Wie aus weiter Ferne vermischte es sich mit den Klängen und den Bildern aus dem Fernseher. Er bemerkte es nicht, ebenso wenig wie die Tränen, die ihm über das Gesicht liefen.

      Gereizt trommelte Tim mit den Fingern auf die Armlehne des Sofas. Ihre Arbeit am Flughafen war beendet, alle Fahrzeuge wieder an der Wache, die Besatzungen aus dem Einsatz entlassen, aber Tim und viele andere waren noch geblieben. Das half, das Adrenalin herunterzufahren. Je nach Einsatz und Kollegen wurde mal mehr, mal weniger geredet. Auch das half, mit dem Erlebten fertig zu werden. Sie alle waren darauf trainiert, die furchtbaren Bilder nicht allzu nahe an sich heranzulassen, doch manchmal konnten selbst sie sich ihnen nicht entziehen. Niemand kannte das besser als die Kollegen, und niemand war besser geeignet, darüber zu reden. Oder zu schweigen.

      Heute sahen sie die meiste Zeit die Berichterstattung über den Anschlag im Fernsehen an. Die Fakten waren offensichtlich, aber wenn Tim in seiner Zeit als Notfallsanitäter und Feuerwehrmann eines über die Presse gelernt hatte, dann das: Fakten reichten nicht. Nicht für die Nachrichten und erst recht nicht für die Boulevardpresse. Schon am Flughafen hatte an jedem Absperrband ein Reporter gestanden, das pflichtbewusst erschütterte Gesicht der Kamera zugewandt, und mit großem Ernst haltlose Mutmaßungen verkündet.

      »Gut, dass die Polizei wenigstens schnell geschaltet und keinen von den Affen in die Halle gelassen hat«, sagte Tim. »Wären die uns auch noch über die Füße gelaufen, ich glaube, ich wäre ausgerastet.«

      »Und was ist das?«, fragte einer der Jungs vom Löschzug und deutete auf den Fernseher. Das Bild war grob und wackelte heftig, aber es zeigte unverkennbar Tim, Mark und die langhaarige LNA bei der Wiederbelebung.

      »Na super«, sagte Mark. »Das werden wir bis morgen alle zehn Minuten auf jedem Kanal sehen.«

      Tim seufzte. »Geschafft hat’s der arme Kerl trotzdem nicht.«

      »Wo, um Himmels willen, stand die Kamera?«

      »Auf dem Löschfahrzeug.«

      »Seid ihr bescheuert, den da raufzulassen?«

      »Haben wir nicht. Der ist heimlich raufgeklettert, und wir haben ihn erst nach ein paar Minuten entdeckt. Jörg wollte ihn eigentlich mit dem C-Rohr runterpusten.«

      Alle lachten.

      Der Sprecher unterlegte die eingespielten Bilder mit Kommentaren, die aus den bekannten und hundertmal wiederholten Fakten gespeist und mit Spekulationen und Allgemeinplätzen aufgefüllt waren. »Der Ort der Explosion lag im vorderen rechten Teil der Halle«, sagte er. »Die Detonation war so heftig, dass das komplette Terminal verwüstet wurde. Es muss befürchtet werden, dass im Umkreis von vielen Metern niemand diese Explosion überlebt hat. Offizielle Zahlen gibt es noch nicht, aber unseren Informationen nach beträgt die Zahl der Todesopfer bis zu 20.«

      »Stimmt gar nicht«, sagte Lars, der an diesem Morgen einer der ersten vor Ort gewesen war. »Der eine Typ, der war genau da, wo’s geknallt hat. Oder, Clemens?«

      Sein Partner nickte. »Hat am Anfang noch vor sich hingebrabbelt. Sowas wie ›Das hätte nicht passieren dürfen‹.«

      Tim nickte. »Ja, den haben wir später versorgt. Sah ziemlich finster aus.«

      »Hat er euch denn überlebt?«

      »Knapp. Ist als einer der ersten nach Boberg.«

      »Da hatte er Glück. Die Verbrennungsbetten dürften in Nullkommanichts ausverkauft gewesen sein.«

      Tim schnaubte. »Wer die Betten braucht, hatte per Definition kein Glück.«

      »Aber er hat eine Chance.«

      Tim schwieg.

      »Hab ich schon wieder was Falsches gesagt?«

      »Was hat der Mann mit ›Das hätte nicht passieren dürfen‹ gemeint?«

      »Ist doch egal. Der war völlig durch den Wind. Keine Ahnung, was ich in so einer Situation sagen würde.«

      »Du würdest wahrscheinlich Mark einen Heiratsantrag machen.«

      Alle lachten, und Tim mit ihnen. Jetzt war nicht die Zeit zum Grübeln. Aber es nagte an ihm. Irgendetwas passte nicht, doch er kam nicht darauf, was.

      In der Moschee waren sie nicht. Nicht im Gebetsraum, nicht in den Gemeinschaftsräumen, nicht im Waschraum.

      Nervös streifte er durch die Gänge, öffnete jede Tür, sah in jedem Raum nach. Der Imam grüßte ihn, er grüßte flüchtig zurück, den Blick schon wieder woanders. Keiner von ihnen war da. Hatten sie ihn im Stich gelassen? Hatten sie ihn die Drecksarbeit machen lassen und waren dann verschwunden?

      Es war Zeit für das Nachmittagsgebet. Er wünschte sich die Nähe des Barmherzigen. Also wusch er sich, ging in den Gebetsraum, richtete sich nach Mekka aus und hob die Hände. »Allahu akbar …«

      Er betete, wie es vorgeschrieben war, aber sein Herz und seine Gedanken waren nicht bei der Sache. Die Erleichterung und die Ruhe im Geist, die er sich vom Gebet erhofft hatte, stellten sich nicht ein. Wie auch? Warum sollte Allah einem Sünder wie ihm Frieden schenken? Einem Mann, der all die getötet hatte, die ihm vom Höchsten zum Schutz befohlen waren – die eigene Familie?

      Oder prüfte Allah ihn? Stellte er seine Glaubensfestigkeit auf die Probe mit dem höchsten Opfer, das ein Mann seinem Gott darbringen konnte? War es gar gerechtfertigt, die Familie zu opfern, um möglichst vielen Ungläubigen den Tod zu bringen? Hatte er sie Allahs Gnade als Märtyrer anempfohlen und ihnen einen Platz im Paradies verschafft?

      Seine Brüder würden Rat wissen. Wo waren sie?

      Er ging vor die Tür, suchte sich eine unbeobachtete Ecke und zog das Smartphone heraus. Zwar war es verboten, andere Mitglieder der Gruppe anzurufen – zu groß die Gefahr, dass eines ihrer Telefone den Ungläubigen in die Hände fiel –, aber das war ihm egal. Er musste Gewissheit haben.

      Es klingelte und klingelte, dann sprang die Mailbox an und erklärte mit elektronischer Stimme, der Teilnehmer sei zurzeit nicht erreichbar. Er versuchte es ein zweites und drittes Mal, bevor er es aufgab. Eine Nachricht hinterließ er nicht.

      Frustriert steckte er das Smartphone weg und machte sich auf den Heimweg. Er war noch nicht weit gekommen, als es in seiner Tasche vibrierte. Der verschlüsselte Messenger, mit dem sie kommunizierten, zeigte eine neue Nachricht an. Hastig öffnete er sie.

      »Nicht anrufen«, stand dort, darunter eine Adresse, die er nicht kannte, und eine Uhrzeit.

      Eine Stunde. Dann würde sich alles aufklären.

      Sein Blick fiel auf die Benachrichtigungsleiste. Ein Anruf in Abwesenheit.

      Er tippte auf die Nachricht, die Nummer wurde angezeigt, und seine Welt drehte sich schlagartig in eine andere Richtung.

      Es war die Nummer seiner Schwester.

      Kapitel 3

      21. Mai

      »Da«, sagte Harald, »Nummer 15. Fahr rechts ran.«

      Es war später Vormittag und die meisten Anwohner waren bei der Arbeit. Die Erwerbslosenquote war hoch in Wilhelmsburg, aber es blieben genügend automobile Arbeitnehmer, um bequem einen freien Parkplatz in der Nähe des Hauses zu finden.

      Marie und Harald stiegen aus dem BMW und gingen zum Eingang eines der typisch hamburgischen Wohnblöcke, vierstöckig und dunkelrot verklinkert. Auf der anderen Straßenseite standen keine Häuser, hier erhob sich sieben oder acht Meter hoch der Elbdeich.

      Marie überlegte, ob man vom oberen Geschoss der Häuser aus das Wasser sehen konnte. Anderswo in Hamburg würde man für diese Lage am Ufer der Elbe horrende Mieten bezahlen, aber nicht hier auf der Veddel, einem der klassischen Arbeiterviertel Hamburgs. Noch nicht. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor gewiefte