Stefan Mühlfried

Blaulichtmilieu


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ihn nicht gefunden. Irgendwann bin ich auf die Idee gekommen, nach dem Auto zu sehen, und das war weg. Wir haben bis zum Schluss gehofft, dass mein Vater mit ihm gefahren ist.« Sie lachte trocken. »Völlig blöde Idee. Warum sollte er mit Altay wegfahren? Aber man klammert sich an jeden Strohhalm. Tja.« Sie drehte sich weg und suchte nach einem Taschentuch.

      Marie wandte sich der Mutter zu, die zwar zu ihrer Tochter sah, doch offensichtlich tief in Gedanken versunken war. »Frau Kabaoglu?«

      Sie schreckte auf. »Ja?«

      »Sind Sie direkt in die Halle gegangen, nachdem sie aus dem Auto gestiegen sind?«

      »Ja. Ibrahim raucht nicht mehr. Vor zwei Jahren hätten wir noch draußen stehen bleiben müssen.« Sie lachte leise und fing dann unvermittelt an zu weinen.

      Marie machte ihren Platz auf dem Sofa frei, damit Şahika sich neben ihre Mutter setzen und sie trösten konnte. Sie ließ sich auf einem Sessel gegenüber nieder. »Was geschah danach?«, fragte sie.

      Şahika hob den Kopf. »Wir sind direkt zum Check-in gegangen. Die Schlange war mächtig lang, und mein Vater hatte Panik, dass wir nicht rechtzeitig am Gate sein könnten. Na ja, und da haben wir erst einmal ein paar Minuten gestanden.«

      »War Ihr Bruder dabei?«

      »Ja, er wollte noch etwas bleiben, um meinen Vater zu beruhigen.«

      »Beruhigen?«

      »Dass es klappt mit dem Check-in und dass wir genug Zeit haben. Aber ich glaube, Altay war knapp dran, er wurde immer nervöser und schaute dauernd auf die Uhr.«

      Marie und Harald tauschten einen raschen Blick aus. »Wie ging es weiter?«, fragte Marie.

      »Dann sind wir alle auf die Toilette, ich und meine Mutter, und ein paar Minuten später mein Vater. Er meinte, wir sollten ausnutzen, dass Altay noch da ist und auf das Gepäck aufpassen kann.«

      »Wie lange hat das in etwa gedauert?«

      »Es war eine ziemliche Schlange vor dem Damenklo. Eine Viertelstunde bestimmt. Aber ich verstehe nicht …«

      »Wir müssen den Ablauf der Tat so genau wie möglich rekonstruieren, wie bei einem Puzzle. Jedes kleinste Teil kann wichtig sein.«

      »Na gut. Als wir fertig waren, haben wir nach meinem Vater geschaut. Weil er nicht mehr bei den Toiletten war, sind wir davon ausgegangen, dass er bereits zu Altay zurückgekehrt ist, und wollten zurück zum Check-in. Wir waren noch im Vorraum der Toilette, als es auf einmal krachte.«

      »Sie haben die Explosion also nicht selbst gesehen?«

      »Nein, zum Glück nicht. Aber es war auch so schrecklich genug.«

      Frau Kabaoglu hob den Kopf von der Schulter ihrer Tochter. »Ja, schrecklich. Wir sind gleich raus in Halle und haben gerufen: Ibrahim, Ibrahim, Altay, Altay. Aber keine Antwort. War gar nicht laut nach Explosion. Ganz schrecklich, wie leise das war. Ibrahim hätte uns gehört, wenn er …« Sie vergrub ihren Kopf wieder an der Schulter ihrer Tochter.

      Şahika sprang ein. »Wir wollten dorthin, wo wir meinen Bruder und das Gepäck zurückgelassen hatten, doch da war totales Chaos. Wir haben nach meinem Vater gesucht, aber wir konnten ihn nicht finden. Und irgendwann hat uns die Polizei fortgeschickt. Da waren überall Rauch und Feuer und Trümmer und Blut. Und Menschen lagen da. Manche haben sich noch bewegt oder geschrien, aber die meisten … Ich wollte auch nicht, dass meine Mutter meinen Vater so sieht.«

      Marie nickte. »Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen an dem Morgen?«

      Şahika lachte trocken. »Sie meinen, außer dass der Flughafen in die Luft geflogen ist?«

      »Haben Sie jemanden beobachtet, der sich auffällig verhalten hat? Vielleicht jemanden, der besonders nervös war oder der unpassend wirkte?«

      »In ein paar Tagen ist das Zuckerfest. Halb Deutsch-Anatolien war am Flughafen. Die waren alle genauso nervös wie mein Vater, und praktisch keiner von denen wirkte passend dort.«

      »Frau Kabaoglu? Ist Ihnen am Flughafen etwas Besonderes aufgefallen?«

      Die Mutter hob den Kopf und schüttelte ihn. »Nein, gar nicht. War ich doch selber so aufgeregt, habe ich gar nicht auf andere geachtet.«

      »Das kann ich verstehen. Ich glaube, das ist für heute genug. Wir werden Sie sicher noch einige Male befragen, aber im Moment möchte ich Sie nicht zu sehr belasten.« Sie zog zwei Visitenkarten heraus und gab sie Mutter und Tochter Kabaoglu. »Wenn Ihnen etwas einfällt oder Sie Fragen haben, rufen Sie uns bitte an. Auf der Karte steht auch meine Mobilfunknummer, unter der können Sie mich Tag und Nacht erreichen.«

      »Wo ist eigentlich Ihr Sohn? Sollte er nicht bei Ihnen sein?«, fragte Harald.

      Şahika antwortete für ihre Mutter. »Er war gestern hier und sagte, er müsse heute arbeiten und könne nicht freinehmen.«

      »Könnten Sie uns bitte seine Anschrift und seine Telefonnummer geben? Wir würden uns gerne auch mit ihm unterhalten.«

      Harald notierte die Nummer, die Şahika nannte.

      Marie stand auf. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Gibt es noch etwas, was wir für Sie tun können?«

      »Mein Ibrahim«, sagte Frau Kabaoglu. »Können wir ihn bald bekommen? Der Koran sagt, Tote sollen schnell begraben werden. Ist schon ganzer Tag jetzt.«

      »Es tut mir leid, aber das wird leider dauern. Der Leichnam Ihres Mannes muss genau untersucht werden.«

      »Wird mein Ibrahim gut behandelt?«

      »Wie bitte?«

      »Gut behandelt. Ich habe gehört, dass Deutsche sagen, Tote sind nur noch …«, sie suchte nach einem passenden Wort, »… Ding. Für Moslem, Toter muss Respekt bekommen, weil Seele noch da ist.«

      »Frau Kabaoglu, ich versichere Ihnen, die Rechtsmediziner werden Ihren Mann mit dem größten Respekt behandeln. Die Untersuchungen sind wichtig. Ihr Mann beziehungsweise sein Körper kann uns Hinweise darauf geben, was geschehen ist. Er hilft uns.«

      Frau Kabaoglu nickte. »Das ist gut. Dann wird Allah vergeben, dass er so spät begraben wird.«

      Marie und Harald verabschiedeten sich. Şahika brachte sie bis zur Wohnungstür. Kaum hatten sie das Wohnzimmer verlassen, kamen die drei Besucherinnen aus der Küche, verabschiedeten sich höflich von den beiden und liefen ins Wohnzimmer, wo sie das unterbrochene Gespräch fortsetzten. Marie konnte sie nicht verstehen, aber sicher wollten sie jedes Detail über den Besuch der Polizei wissen.

      »Vielen Dank für die Hilfe«, sagte Marie zum Abschied. »Wir werden uns wieder bei Ihnen melden. Bis dahin wünsche ich Ihnen alles Gute und viel Kraft.«

      Sie gingen zurück zum Auto. »Kommt dir das nicht auch seltsam vor?«, fragte Harald. »Dass der Sohn sagt, er bekomme nicht frei, obwohl sein Vater gestorben ist? Ich meine, selbst wenn es so wäre – jeder normale Mensch pfeift doch auf so etwas.«

      Marie warf Harald den Schlüssel zu. »Schon. Vielleicht ist er einer von der ganz ehrgeizigen Sorte?« Sie stiegen ein.

      »Also …« Harald ließ den Motor an.

      »… auf zu Altay Kabaoglu«, ergänzte Marie.

      Harald zog vom Parkplatz auf die Fahrbahn und steuerte in Richtung der Wilhelmsburger Reichsstraße, der Schnellstraße von Wilhelmsburg nach Harburg.

      Sie fuhren eine Viertelstunde bis zum Mercedes-Werk. Obwohl hier nur Teile und keine kompletten Autos gefertigt wurden, hatte das Gelände eine beeindruckende Größe. Sie brauchten weitere 20 Minuten, bis sie die richtige Halle, und noch einmal fünf, bis sie den Vorarbeiter gefunden hatten.

      »Altay?«, fragte der Vorarbeiter und stemmte die Arme in die Hüften. »Wenn Sie den finden, dann sagen Sie ihm, er soll auf der Stelle antanzen und sich seinen Einlauf abholen. ’tschuldigung, seine Abmahnung.« Er blinzelte zu Marie.

      »Sie meinen, er ist nicht aufgetaucht?«

      »Nee.