Torsten Schönberg
Der Stempelmörder
Wien-Krimi
Zum Buch
Gekommen, um zu bleiben Wie wird man ein guter Österreicher? Kartoffeln schälen, Herzstiche durchführen und Kleingarten pflegen – so will das Integrationsprogramm „Piefke 5“ deutsche Migranten zu Vorzeige-Österreichern erziehen. Die zieht es nämlich, seit Deutschland wirtschaftlich am Boden liegt, scharenweise in den gelobten Süden. Juri Sonnenburg ist einer von ihnen. In Wien versucht er zusammen mit seinem Kärntner Freund Georg sein Glück. Das endet, als ein Mitbewohner in dem schäbigen Männerwohnheim ermordet aufgefunden wird – mit durchgeschnittener Kehle und dem Stempel „Piefke 5“ auf dem Rücken. Schnell geraten Juri und Georg unter Mordverdacht. Während der »Stempelmörder« immer wieder zuschlägt, kommt zutage, welch haarsträubende Vorgänge sich in den scheinbar wohlanständigen Kreisen Wiens abspielen. Die Untersuchung des Falls nimmt Chefinspektor Paradeiser in die Hand. Dem scheint allerdings ein Fahndungserfolg wichtiger zu sein als die Ermittlung der Wahrheit …
Torsten Schönberg, 1969 in Eschwege geboren, studierte Geologie und Paläontologie in Göttingen und Wien. Nach dem Studium war er als Projektmanager im Bereich Geographische Informationssysteme tätig. Als Inspiration diente ihm in den letzten beiden Jahrzehnten seine Wahlheimat Wien. Die Hauptstadt der ehemaligen Habsburgermonarchie, beinahe so etwas wie ein riesiges Freilichtmuseum, bietet ihm eine Fülle von rätselhaften, skurrilen und makabren Anregungen. „Der Stempelmörder“ ist Torsten Schönbergs erster Kriminalroman. Er arbeitet als freier Autor und Consultant in Wien.
Impressum
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© 2021 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Teresa Storkenmaier
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Lutz Eberle
ISBN 978-3-8392-6720-2
Samstag: Freizeit im Männerwohnheim Meldemannstraße in Wien Brigittenau
Ich konnte ein ziemlich böser, aber manchmal auch sehr netter Mensch sein, dachte ich. Es war Samstagmorgen gegen halb fünf. Ich lag in einem Wiener Männerwohnheim, dem Heim für Obdach- und Arbeitslose in der Meldemannstraße im Wiener Gemeindebezirk Brigittenau. Du wirst dich jetzt sicher fragen, was ein Männerwohnheim ist. So eine billige Absteige? – Billig schon, und schäbig. Der Himmel auf Erden sah anders aus.
Geboren wurde ich als Juri Sonnenburg in Deutschland, und nach dem Studium der Geologie landete ich in Wien. Georg, ein Kärntner Urvieh, ebenfalls diplomierter Geologe, lag im Bett über mir und schnarchte vor sich hin. Wir teilten uns ein Schlafabteil ohne Komfort. Er war mein einziger Freund, und Freunde waren in diesem Milieu von unschätzbarem Wert. So wertvoll wie Isabel.
Na ja, eigentlich zählte sie nicht zu meinen Freunden. Wir hatten vor einiger Zeit eine kurze, heftige Affäre gehabt und wussten nicht so recht, wie wir zueinander standen. Isabel war eine von zehn Frauen im Männerwohnheim, seit das Frauenwohnheim in der Frauenheimgasse in Meidling vor einem halben Jahr wegen einiger Unzuchtfälle geschlossen worden war. Ihr Zimmer lag am anderen Ende des Gangs auf der gleichen Etage. Eine Tirolerin und von Beruf Hundefrisörin. Wir sprachen kaum miteinander. Wir brauchten Zeit. Obwohl wir davon in der Meldemannstraße ohnehin genug hatten.
Ich öffnete die Augen und beobachtete, wie sich Georgs Matratze wölbte. Das Bettgestell war aus Holz – es krachte bei jeder Bewegung.
Wir gehörten beide zu Piefke 5, dem Arbeits- und Integrationsprogramm für deutsche Migranten. Wirtschaftsflüchtlinge, die beim Nachbarn auf ein besseres Leben hofften. Warum Georg zu uns gehörte, war mir vollkommen unklar. Wahrscheinlich konnten die Wiener die Kärntner noch weniger leiden als uns Deutsche und brummten ihnen deshalb die höchstmögliche Strafe auf: mit einem Piefke ein Zimmer zu teilen.
Unser Piefke-5-Arbeitsplan wurde jede Woche neu zusammengestellt. In den folgenden sechs Tagen mussten Georg und ich jeden Tag in einer anderen Institution arbeiten. Unser Schlafplatz und unser Zuhause war das Männerwohnheim. Der Plan für die kommende Woche sah wie folgt aus:
Samstag: | Freizeit im Männerwohnheim Meldemannstraße in Wien Brigittenau |
Sonntag: | Dornbacher Kirtag in Wien Hernals |
Montag: | Sicherheitswache Polizei in Wien Favoriten |
Dienstag: | Friedhofsverwaltung Zentralfriedhof in Wien Simmering |
Mittwoch: | Mistabfuhr Magistratsabteilung 84 in Wien Neubau |
Donnerstag: | Arbeitslosenstrandbad in Wien Floridsdorf |
Freitag: | Arbeitsmarktservice in Wien Ottakring |
Verantwortlich für das Programmmanagement war die Stabsstelle Piefke 5 im Wiener Arbeitsmarktservice. Sie hatte ihren Sitz in der Huttengasse im Wiener Gemeindebezirk Ottakring. Schlaue Köpfe versuchten uns zu beschäftigen, damit wir keine Dummheiten machten. Neben Piefke 5 gab es für die Geflüchteten aus dem ehemaligen Jugoslawien das Programm Tschuschen 6, und für die türkische Minderheit lief schon die x-te Fortsetzung von Atatürk hab 8. Ziel dieser Programme sollte sein, aus uns gute Österreicher zu machen, vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Das wichtigste Zertifikat in der Alpenrepublik.
Georgs geruchsintensive Gasausstöße zerstörten die Ruhe. Das machte er jeden Morgen. Er sagte immer, dass er damit die unreinen Gedanken seiner Träume vertrieb. Ich schaute zum Tisch. Ein blutiges Küchenmesser lag auf dem Aschenbecher. Ein Sechserpack Pils stand leer herum. Dann waren da noch die Reste unserer Riesenpizza und eine halbe Käsekrainer mit süßem Senf, deren abgestandener säuerlicher Duft sich mit der übel riechenden Ausdünstung mischte.
Georg hatte letztes Jahr einen unglaublichen Schicksalsschlag erlitten. Er verlor unweit von Innsbruck seine Frau bei einem Drachenflieger-Schnupperkurs. Sie stürzte aufgrund eines technischen Defekts aus einer Höhe von 60 Metern zu Boden und verstarb noch an der Unglücksstelle – vermutlich hatte ihn das aus der Bahn geworfen. Ich musste ihm das alles aus der Nase ziehen.
Einer regelmäßigen Arbeit konnte er seitdem auch nicht mehr nachgehen. Es erinnerte ihn alles an seine Frau, sagte er mir neulich, an seine Wohnung, seine Eltern, seinen Sohn und seine Freunde. Er verließ die Heimat. Der gemeinsame Sohn war damals fünf Jahre alt und wuchs nach dem Todesfall bei Verwandten in einer Kärntner Pension auf. Ohne Arbeit konnte Georg nicht für ihn sorgen. Er wollte ihm eines Tages etwas Besseres bieten, und das versuchte er ausgerechnet über Piefke 5.
Wir wohnten im vierten Stock,