Tisch im vorderen Bereich des Cafés, von dem aus sie durch die hohen Fenster in den Lustgarten schauen konnte. Sie hängte ihre Jacke über die Stuhllehne und machte sich auf zur fürstlich bestückten Kuchentheke. Fast hätte sie ein Stück Rhabarber-Baiser-Sahnetorte bestellt, dann besann sie sich eines Besseren und entschied sich für ein üppiges Frühstück.
Sie gab etwas Butter und Kirschkonfitüre auf die Croissantspitze und biss hinein. Himmlisch, dachte sie, als sie ihr butterweich gekochtes Frühstücksei löffelte. Meistens blieb ihr keine Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Entweder war es ihre fünfjährige Tochter Jana oder ihr Job, die morgens mit einem ausgewogenen Start in den Tag kollidierten. Die Kriminalkommissarin belegte ein Brötchen üppig mit Käse und Gurkenscheiben, danach musste sie sich geschlagen geben. Den Rest der Köstlichkeiten, die man ihr auf der kleinen Porzellanetagere serviert hatte, ließ sie zurückgehen. Martina Lohse spülte den letzten Bissen mit Kaffee hinunter und machte sich auf den Weg zu ihrem Termin.
Über die mit Blumenkästen geschmückte kleine Brücke gelangte sie auf den Marktplatz, wo sie sich rechts hielt und durch den Torgang am Alten Rathaus in eine schmale Gasse ging. Die Gasse mündete in ein Sträßchen, das an der evangelischen Stadtkirche vorbeiführte. Martina Lohse folgte der Straße, bis sie den Spielplatz auf der linken Seite erreichte. Am Haus gegenüber konnte sie schon das hellblaue Türschild mit der Aufschrift »Abrakadabra« erkennen.
Ein Glöckchen über der Tür verkündete ihre Ankunft. Hinter der Tür thronte ein großer goldfarbener Buddha, der die Kriminalkommissarin freundlich anlächelte. An beiden Seiten des schmalen Ladengeschäftes zogen sich geölte Holzregale entlang, in denen alles angeordnet war, was das esoterisch veranlagte Herz begehrte. Martina Lohse entdeckte Klangschalen, Pendel und Amulette, Edel- und Halbedelsteine, Räucherwerk, kleine Reisigbesen, Kerzen, Federn und Schmuck. In einem Regal stapelten sich Fachliteratur und Romane, unter denen Martina Lohse amüsiert alle sieben Bände von Harry Potter ausmachte. Ein Aromadiffusor im Kristallkugellook verströmte einen würzigen Duft nach Sandelholz und Zitrusfrüchten. Aus an der Decke angebrachten Lautsprechern erklang leise Harfenmusik. Hinter einem aus unbehandeltem Holz gezimmerten Verkaufstresen stand eine brünette Frau und sortierte Papiertütchen mit Kräutertee auf einem Tablett. Als ihr dabei die Lesebrille fast von der Nase rutschte, fluchte sie lauthals.
»Frau Sinten?«, fragte die Kriminalkommissarin.
Die brünette Frau nahm die Brille von der Nase und schaute ihre Besucherin aus blauen Augen mit Lachfältchen, die von einem fröhlichen Gemüt zeugten, an.
»Wir haben gestern telefoniert«, sagte Martina Lohse.
Frau Sinten, die die Kommissarin um mehr als einen Kopf überragte, streckte die Hand aus. »Willkommen. Ich bin Selena.«
»Martina«, erwiderte die Hauptkommissarin spontan.
»Möchtest du einen Tee?«, fragte die Ladeninhaberin. »Ich habe gerade eine Kanne finnischen Waldtee aufgegossen.«
»Hört sich spannend an«, meinte Martina Lohse.
»Eine tolle Mischung aus Blaubeeren, Brombeeren, Johannisbeeren und deren Blättern sowie Pinienkernen, Apfelstücken und Mistelkraut.« Selena Sinten goss die dampfende Flüssigkeit in zwei Keramikbecher und reichte einen davon der Kommissarin. »Zucker?«
Martina Lohse schüttelte den Kopf. Zögerlich nahm sie einen Schluck. Dann lächelte sie anerkennend. »Wirklich lecker!«
Selena stellte ihre Tasse auf den Tresen. »Du bist also gekommen, um etwas über Hexen zu erfahren.«
»Ich kenne, ehrlich gesagt, nur ›Die kleine Hexe‹ von Otfried Preußler oder Bibi Blocksberg«, gestand Martina Lohse.
»Daraus lese ich ab und zu meinen beiden Töchtern vor«, erwiderte Selena lachend. »Aber das ist natürlich alles Fiktion.«
»Und du, du bist echt?«, wagte die Kommissarin zu fragen.
»Ja. Ich bin eine wahrhaftige Hexe.«
Die Kommissarin musterte die Ladeninhaberin eindringlich. »Du siehst so normal aus!«
Selena prustete los. »Was hast du dir denn vorgestellt? Dass ich eine fette Warze auf der Nase habe und meine Kundschaft mit einem spitzen Hexenhut auf dem Kopf empfange? Oder dass ich einen Hexenbesen als Dienstfahrzeug nutze?«
»Ertappt«, murmelte Martina.
»Die alten Klischees greifen noch immer«, bedauerte Selena. »Vielleicht, weil Hexen zu allen Zeiten starke, selbstbewusste Frauen waren, die ihren eigenen Weg gingen. Und heute noch gehen. Das weckt Ängste. Für manche stellen alle, die anders als sie selbst sind, eine Bedrohung dar.«
»Wie genau sieht denn dieses ›anders‹ aus?«, hakte die Kommissarin nach.
»Es ist weniger eine Frage von Äußerlichkeiten, sondern eine Frage der Weltanschauung. Das Hexentum ist eine Naturreligion. Wir glauben daran, dass alles beseelt und miteinander verbunden ist. Für uns ist die Natur heilig. Deshalb orientieren wir uns auch am Kreislauf der Jahreszeiten. Gerade haben wir zum Beispiel Ostara, die Frühjahrstagundnachtgleiche, begangen.«
»Seid ihr in Gemeinschaften, in Zirkeln oder so was organisiert?«
»Es gibt frei fliegende Hexen und solche, die sich Hexenzirkeln zugehörig fühlen. Oder eine Mischform aus beiden. Mein Mann, der übrigens auch ein Hexer ist –«
»Ich dachte, Männer wären eher Druiden«, warf Martina Lohse erstaunt ein.
»Nein, es gibt auch männliche Hexen. Wir unterscheiden uns in vielerlei Hinsicht von den Druiden. Das Druidentum orientiert sich am antiken Keltentum und der keltischen Mythologie. Damit hat es eine etwas andere Ausgangsbasis, huldigt anderen Göttern. Mein Mann und ich fühlen uns dem Wicca-Kult zugehörig, der in den USA und in Großbritannien übrigens als Religion anerkannt ist.«
»Hoffentlich bleibt das auch unter Trump so.« Martina Lohse zog eine Grimasse.
»Die Coven, also die Wicca-Zirkel in den USA, sind weise genug, sich nicht zu weit in die Öffentlichkeit zu wagen, keine unnötige Angriffsfläche zu bieten«, erklärte Selena. »Sie haben vor Trump bestanden und werden es auch nach ihm tun. In dieser Hinsicht bin ich sehr zuversichtlich.«
»Dein Mann und du, seid ihr in so einem Zirkel aktiv?«, wollte Martina Lohse wissen.
»Wir sind initiiert, fühlen uns aber als frei fliegend. Das heißt, wir arbeiten nicht in den Zirkeln. So können wir individuell darüber bestimmen, wie wir unsere Rituale abhalten und wie wir unsere Spiritualität definieren.«
»Welche Rolle spielt Gewalt in eurem Hexentum?« Martina Lohse blickte Selena fest in die Augen.
»Natürlich keine!«, erwiderte die, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wir wollen heilen, helfen, bewahren – nicht zerstören. Unsere Zauber sind keine schwarze Magie. Wir sind keine Satanisten und nutzen das Hexentum nicht als Tarnmantel, um rechte oder linke Ideologien zu propagieren.«
»Gibt es solche Zirkel oder Gruppen?« Martina ließ nicht locker.
Selena nippte nachdenklich an ihrem Tee. »Das kann ich nicht ausschließen. Ich kann nur für mich und die Hexen, die mir bekannt sind, sprechen. Aber da ist zum Beispiel dieser selbst ernannte Druide im Rhein-Neckar-Gebiet. Unter dessen weißem Druidenmantel verbirgt sich tiefbraunes Gedankengut. In den sozialen Medien und im Internet ruft dieser Typ ganz unverblümt zur Gewalt gegen Andersdenkende auf und verbreitet antisemitisches Gedankengut.«
»Auf den bin ich bei meinen Recherchen auch gestoßen«, sagte die Kommissarin. »Aber an dem sind die Kollegen vom Verfassungsschutz schon dran. Der kommt für unseren Fall nicht infrage.«
»Worum geht es dir eigentlich genau?« Selena blickte Martina fragend an.
»Zum einen möchte ich wissen, ob du von Gruppierungen oder Einzelpersonen weißt, die an der Kappellenruine in Lichtenklingen heidnische Rituale vollziehen.«
Selena runzelte nachdenklich die Stirn. »Ist mir, ehrlich gesagt, nicht bekannt. Der Zirkel, dem mein Mann