»Ja.« Tina schaute sehnsüchtig zum Kloster hinauf. »Ein bisschen was im Magen würde mir guttun. Ich bin heute gar nicht dazu gekommen, etwas zu frühstücken. Erst habe ich Peter beim Schlachten geholfen und dann kam dein Anruf.«
»Oh Mann, das tut mir leid.« Charlie war aufrichtig zerknirscht. »Außer dem Wasser und einer Packung Kaugummi habe ich nichts eingepackt.« Plötzlich hellte sich ihr Gesichtsausdruck auf. »Hey, der Kiosk am Sportplatz hat bestimmt geöffnet! Von hier aus sind es nur ein paar Schritte.«
»Ja, aber dort hat es vor ein paar Wochen gebrannt. Stand in der Zeitung. Ein defektes Kabel hat hohen Sachschaden verursacht.«
»Das ist jetzt echt blöd.« Charlie zog einen Flunsch. »Ich möchte nicht schuld sein, dass du mir am Berg wegen Unterzuckerung aus den Latschen kippst.«
»Ach was, ich komme schon klar. Ist Intervallfasten nicht eh total angesagt?«
»Wie du meinst.« Charlie setzte sich in Bewegung.
Tina hastete hinter der Freundin her. Dann stoppte sie abrupt. »Warte mal! Mir ist gerade eingefallen, dass für die Zeit der Renovierungsarbeiten am Kiosk ein Imbisswagen aufgestellt wurde. Lass uns schauen, ob wir dort wenigstens ein paar Müsliriegel bekommen!«
»Was darf es denn sein, meine Damen?« Der Mann hinter der Verkaufstheke des Imbisswagens schenkte den beiden Freundinnen ein strahlendes Lächeln.
»Haben Sie Müsliriegel?« Charlie musterte die herzhaft-deftigen Auslagen der Kühltheke und die Bierschankanlage.
Das Lächeln des Mannes wurde noch eine Spur breiter, wodurch sich an den Mundwinkeln Grübchen bildeten. »Stehen Sie mehr auf gesundes Körnerfutter oder darf es was Leckeres sein? Ich habe Riegel mit Kokosflocken, Schoko-Trüffelkern und weißen Schokotropfen. Die schmelzen Ihnen auf der Zunge. Ein Gedicht!«
»Vier Stück davon«, sagte Tina wie aus der Pistole geschossen.
Charlie seufzte innerlich, blieb aber standhaft. »Ich hätte gern eine Packung Studentenfutter.«
Der Mann, dem Charlies Rucksack nicht entgangen war, nickte. »Eine gute Wahl für unterwegs. Die Trockenfrüchte und Nüsse verschaffen Ihnen den notwendigen Energieschub, ohne zu belasten.«
Charlie nahm die Packung entgegen und verstaute sie im Rucksack.
»Darf ich Ihnen sonst noch zu Diensten sein?«, fragte der Betreiber des Imbisswagens. Mit der Hand strich er sich den dunkelbraunen Pony zurück, der ihm immer wieder in die Augen fiel. Für einen Mann seines Alters hatte er erstaunlich volles Haar, dachte Charlie.
»Ich weiß nicht …« Tina kämpfte gegen ihren inneren Schweinehund.
Was dem Mann hinter der Verkaufstheke nicht entging. »Warum setzen Sie sich nicht an einen der Tische? Die Sonne scheint heute so herrlich! Ich bringe ihnen in Nullkommanichts eine Tasse Kaffee und eine meiner Spezialitäten: mit knusprigem Frühstücksspeck umhülltes Rührei. Die Eier dafür kommen von den glücklichen Hühnern meiner Nachbarin. Fleisch kaufe ich nur in Bioqualität. Und die Wildkräuter zum Würzen habe ich heute früh auf dem Weg hierher frisch gepflückt.«
Auf Tinas Gesicht machte sich ein verträumtes Lächeln breit.
Auch Charlie fand, dass die blau lackierten Bistrotische und -stühle sehr einladend aussahen. Die Keramiktöpfchen mit Lavendelpflanzen und die kleinen Windlichter versprühten französischen Charme. »Okay, dann zweimal glückliches Rührei vom Hardberg«, willigte Charlie ein.
»Kommt sofort!«, versicherte ihnen der Mann mit der großen, ein wenig altmodisch anmutenden Brille.
»Sie haben außer Butter noch frische Sahne an die Eier getan, nicht wahr?«, fragte Tina, als der Mann ihre blitzblank leer geputzten Teller abräumte.
»Ertappt!« Der Imbissbetreiber versuchte, eine schuldbewusste Miene aufzusetzen. Was ihm kläglich misslang.
»Nein, verstehen Sie mich bitte nicht falsch!«, rief Tina aus. »Ich wollte damit sagen, dass ich ein so perfektes Rührei lange nicht mehr gegessen habe. Die meisten rühren H-Milch oder, noch schlimmer, Kondensmilch unter die Eier.«
Der Mann legte seine rechte Hand auf die Brust. »So ein Gemansche gibt es bei mir nicht. Ich koche ehrlich. Mit frischen und natürlichen Zutaten.«
Charlies Gesichtsausdruck spiegelte Verwunderung wider. »Ich hätte nicht damit gerechnet, dass es in einem provisorischen Imbisswagen so etwas Gutes zu essen gibt.«
»Mit dem Rührei können Sie sich für einen Stern im Guide Michelin bewerben«, stimmte Tina ihr zu.
»Ach nein.« Der Mann wirkte verlegen.
»Also wenn ich Testesser für einen Gourmetführer wäre – meine Empfehlung hätten Sie.« Tina strahlte den Imbissbetreiber an.
»Das ist nett.«
»Nein, ehrlich«, widersprach ihm Tina. »Sie sollten Ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen.«
»Darf ich?« Der Mann zog mit der linken Hand einen weiteren Stuhl an den Tisch.
Charlie fiel auf, dass das oberste Glied seines Zeigefingers fehlte. »Ein Unfall?«, fragte sie mitfühlend.
»Berufsunfall«, erwiderte der Mann mit einem schiefen Grinsen. »Nach einer langen Nacht mit den Kumpels sollte man nicht mit einem rattenscharfen Santokumesser hantieren. Auch nicht als Koch.«
»Tut mir leid«, sagte Charlie.
»Ach was, ich komm gut ohne das fehlende Stück Finger klar«, sagte der Mann. »Aber ich passe jetzt besser auf.«
»Das ist gut.« Tina nickte. »Es wäre jammerschade, wenn Sie nicht mehr kochen könnten. Wie lange werden Sie mit Ihrem Imbisswagen noch hier sein?«
»Der Kiosk soll zum Beginn der Sommerferien wieder in Betrieb gehen. Vielleicht finde ich ja in der Nähe ein schönes Plätzchen, wo ich meine mobile Küche aufstellen und Sie kulinarisch verwöhnen darf.« Der Mann zwinkerte Tina zu.
»Ich hätte nichts dagegen.«
»Bevor mein Vertrag ausläuft, sollten Sie noch mal kommen und meine Wildschweinterrine kosten.«
»Das werde ich«, versprach Tina.
»Wie wäre es nächste Woche? Mögen Sie Trüffel?«
»Hm, ich liebe Trüffel.« Tina fuhr sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe.
Der Imbissbetreiber beugte sich zu Tina hinüber. »Für Sie rühre ich extra viel Trüffel unter.«
»So ein verlockendes Angebot kann ich kaum ausschlagen.«
»Das sollten Sie auch nicht.«
»Mal sehen, was sich machen lässt.« Tina klimperte mit den Wimpern.
Charlie griff demonstrativ nach ihrem Rucksack. Sie hatte genug von dem Spektakel, das Tina und der Imbissbetreiber gerade abzogen. Die beiden flirteten hemmungslos miteinander. So kannte Charlie ihre Freundin gar nicht! Vielleicht lag es an dem Kellerbier, das sich Tina anstelle des Kaffees zum Rührei bestellt hatte. Der Alkohol war ihr zur frühen Stunde in den Kopf gestiegen.
»Ich hätte gern noch einen Kaffee«, sagte Charlie mit Nachdruck.
»Natürlich, natürlich.« Der Mann stand widerwillig auf und ging mit den Tellern in Richtung des Imbisswagens.
»Alles in Ordnung?«, fragte Charlie ihre Freundin.
»Ja, mir geht es bestens!« Tina unterdrückte ein Rülpsen.
Als der Imbissbetreiber mit dem Kaffee zurück an den Tisch kam, gab Charlie die Tasse an ihre Freundin weiter. »Ich glaube, den kannst du jetzt gebrauchen. Ich bezahle.«
4. Kapitel
Zehn Minuten später stapften die beiden Frauen an der Minigolfanlage und an der Grillhütte vorbei den Abhang hoch. Oberhalb des Spielplatzes