Tränen und Regentropfen mischten sich auf meiner Haut. Sachte brachte sich das Schiff auf unserem Fluss in Stellung und fuhr los in Richtung Süden. Der Hafen verschwand hinter einer Landzunge, man sah nur noch die Häuser auf der Siegburger Straße, hinter uns der Rheinauhafen, verdeckt von den Kranhäusern. Ein Lastschiff schob sich zwischen uns und das Ufer, dann die lange Baumreihe der Alfred-Schütte-Allee, Silos, Lastkräne.
Eine Weile blieb ich wie versteinert an Deck stehen, ließ mir Wind und Regen ins Gesicht wehen. Wir fuhren an den Häusern der Stadt vorbei, unter den drei alten Stahlbögen der Südbrücke und den geschwungenen Seilen der Rheinbrücke Rodenkirchen hindurch zu meiner Heimat. Hier wohnten Adrian und ich. Ich sah das weiße Kapellchen Alt-Sankt-Maternus. In ihr wurde seinerzeit unsere Tochter Floriane getauft. Ich spürte ihren kleinen Körper noch in meinen Armen, als wäre es gestern gewesen. Gerade erst vor 24 Jahren.
Dann der Sandstrand der Kölschen Riviera. Vom Wasser aus wirkte alles schöner. Man sollte einfach nicht zurück an Land gehen.
Adieu, Köln. Ich verließ es bis auf weiteres.
Nun gab es für mich erst mal kein Zurück. Ich würde mit diesem Schiff fahren, wohin es mich auch trug. Vielleicht sogar ohne Gepäck, denn ich wusste nicht, ob mein Koffer noch am Straßenrand stand. Darauf hatte ich nicht mehr geachtet, als ich Adrian wild winken sah. Es war jetzt sowieso egal. Im Notfall verbrachte ich die nächsten Tage unter der Bettdecke, da brauchte man nicht viel.
Johannes Krappmann begrüßte seine Gäste durch die Lautsprecheranlage und erzählte etwas zur Strecke, die vor uns lag.
Mein Kopf fühlte sich an wie unter einer Taucherglocke, an die meine Stirn von innen stieß. Starr stand ich da. Ließ das Ufer, die Mitreisenden mit ihrer guten Laune, die ganze Welt an mir vorüberziehen. Vielleicht war es wirklich der momentan beste Ort, um sich zu sammeln und herauszufinden, wie mein Leben weitergehen konnte. Hugo und Bosse, beides Vorschuljungen, wie ich annahm, rannten um mich herum und wurden von zwei Gleichaltrigen verfolgt. Deren Mutter rief entnervt: »August, Oskar, kommt ihr wohl hierher!« Sie dachten nicht daran.
Mein Blick fiel auf einen achteckigen Glasbau vorne auf dem Schiffsdeck, dessen Fenster nach außen hin verspiegelt waren. Jetzt öffnete sich eine Tür in ihm und Krappmann trat heraus. Er zog sich den Reißverschluss seines Anoraks zu. Als er mich sah, kam er zu mir, und ich fragte mich, ob er Zeuge meiner Handyversenkung geworden war. Aber er ließ sich nichts anmerken, sondern erkundigte sich danach, wie mir meine Kabine gefiel.
»Zu der bin ich noch nicht vorgedrungen.«
»Dann wird es aber höchste Zeit.« Er senkte seine Augenbrauen etwas herab. Als er mich unterhakte und vorschlug einzuchecken, spürte ich so etwas wie Wellengang in meiner Beckengegend. Er ging mit mir wieder die eiserne Treppe hinunter, führte mich an die Rezeption, an der es noch immer von Gästen wimmelte, und rief eine der Damen hinterm Tresen beim Vornamen. Sofort wandte sie sich uns zu. Ich zeigte Ticket und Pass, dann überreichte mir der Kapitän mit feierlicher Geste meine Schlüsselkarte, die mehr als nur ein Schlüssel war. Auf sie konnte man buchen lassen, was das Herz begehrte: Massagen, Landausflüge, WLAN und anderes mehr. An Bord war sie meine Kreditkarte. Ein neues Leben in Scheckkartenformat lag in meiner Hand. Zumindest für die nächste Woche. Kabine 305. Meine vorerst neue Bleibe.
Krappmann deutete nach rechts hinter uns, wo ein paar Stufen hoch in einen Gang führten. Dort ging es lang. Er verabschiedete sich bis auf später, und ich lief Richtung Kabine. Der Gang, der zu ihr führte, ebenfalls hellblau gestrichen, war nur dämmrig erleuchtet. Einige Deckenspots strahlten herunter auf den Teppich an Stellen, auf denen der kugelige Fisch eingewebt war. Man fühlte sich wie in einem Flussbett. Ich lief bis zur Nummer 305 und zückte meine Schlüsselkarte.
»Is was?«, fragte mich eine Frau, die in diesem Moment die Kabinentür öffnete. Von innen. Es war die Fußmasseuse aus der Lounge.
»Fängt man so ein nettes Gespräch an?«
»Ich führe keine netten Gespräche.«
»Nie?«
»Nee.«
»Auch nicht, wenn Sie in andererleuts Kabine wohnen? In meiner zum Beispiel?«
Sie zog ihre Augenbrauen zusammen und wirkte so finster auf mich, dass ich einen Schritt zurücktrat. Unter ihren Augen zeigten sich dunkle Ringe und tiefe Furchen, ihre Haut war aschfahl.
»Du bist mir ja ein Spaßvogel. Das ist meine Kabine. Die nimmt mir keiner weg. Her mit der Karte.« Ihre Stimme klang harsch, und sie wirkte sehr entschlossen. Mit der wollte man keinen Krach. Freiwillig rückte ich meine Karte raus, die sie in einen Schlitz über dem Türknauf steckte. Es tat sich nichts. Demnach passte sie nicht. Es stellte sich heraus, dass ich eine Tür weiter musste.
Sie lachte laut und kettensägenschrill. »Macht nichts, Blondi, nicht jeder kann schlau sein.«
Oder freundlich, lag mir auf der Zunge, aber ich hielt die Klappe. Nicht alles verdiente eine Reaktion. Stattdessen zog ich eine Tür weiter und nahm mir vor, mich in meiner Kabine fürs Erste unter dem Bettzeug zu verkriechen. Ich wollte alleine sein und meine Ruhe haben. Wahlweise hätte mir auch ein warmer, nicht enden wollender Schokoladenstrom gefallen, in dem ich baden und meine Wunden hätte lecken können. Für die kommende Woche war mir nach Selbstmitleid.
Als ich meine Schlüsselkarte in den dafür vorgesehenen Schlitz stecken wollte, um endlich meine Tür aufzuschließen, öffnete die sich ebenfalls von innen.
Vor mir stand eine rundliche Frau Mitte 50 in einem bodenlangen Kaftan, den ich sehr gut kannte. In ihm steckte meine Cousine Maike.
»Da bist du ja. Ich hab schon gedacht, du hast das Schiff verpasst«, sagte sie und schlang ihre Arme um mich, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen. Dabei war es noch keine Woche her.
»Was machst du denn hier?«, fragte ich.
Sie reagierte verwundert. »Ich helfe aus.«
»Wem?«
»Euch.«
»Wie?«
»Ich bin doch für deinen Adi eingesprungen.«
Jetzt verstand ich gar nichts mehr, und zur Vorsicht stützte ich mich am Türrahmen ab, denn ich hatte das Gefühl, keinen festen Boden mehr unter meinen Füßen zu spüren.
Behutsam zog sie mich in die Kabine zu einem Sessel. Es stellte sich heraus, dass Adrian ihr in der Frühe eine Nachricht gesendet hatte, in der er sie bat, kurzfristig statt seiner an Bord zu gehen, um mich zu begleiten. Er wollte das mit der Reederei klären, die ihr kurz darauf ein geändertes E-Ticket auf ihr Handy schickte. Hastig hatte sie daraufhin ein paar frische Kaftane in den Koffer geworfen, um ein paar Stunden später auf der »River Diamond« einzuchecken.
Erst jetzt erkannte sie, dass ich von all dem nichts wusste, und bot an, im nächsten Hafen wieder von Bord zu gehen. Von dort wollte sie per Bahn nach Hause fahren.
Ich fragte mich, ob Adi dies alles von langer Hand vorbereitet hatte. Eine Zeit lang schwiegen Maike und ich. Wie brachte ich ihr bei, dass ich jetzt nicht auf Gesellschaft eingestellt war? Sie konnte ja nicht wissen, in welche Turbulenzen sie geraten war. Unser nächster Stopp stand erst in Cochem an. Wann genau, wusste ich nicht auswendig. Sicher nicht vor morgen früh. Die Ärmste konnte nichts dafür, mit mir hier gestrandet zu sein. Ich neigte meinen Kopf zur Seite an das große Fenster hinter mir. Das Glas kühlte meine Stirn. Draußen zog gemächlich das Rheinufer an uns vorbei. Je länger ich darauf schaute, desto mehr spürte ich das leichte Wiegen des Schiffes in meinem Körper. Gleichzeitig fühlte ich mich wie losgelöst von dieser Welt.
Maike setzte sich in den Sessel neben mir. »Was ist denn passiert? An deinem Geburtstag am Freitag war doch noch alles in Ordnung. Adi schenkte dir diese Rheinfahrt. Das fand ich toll. Du hast dir immer eine Schiffsreise gewünscht.«
»Mensch, Maike, ich träumte von romantischen Abenden mit Blick auf türkisblaues Wasser, bunten Schirmchencocktails in der Hand und einer lauen Karibikbrise im Haar. Diese Reise geht von Köln nach Straßburg. Demnach steht uns eine Woche auf