Ehrenabzeichen anzogen, die Hüte mit den Schützenfedern aufsetzten und Fahnen und Gewehre schulterten, schien die Sonne. Für Glaube, Sitte und Heimat.
An St. Martin verbrannten wir nach dem Fackelumzug unterhalb des Berges, an einer Fichtenschonung, alte Reifen und Holz. Das Feuer war weithin zu sehen, erhellte unsere Gesichter und strahlte bis hinauf in den Himmel.
Zu Weihnachten baute Berni, unser Küster, zu Füßen der Madonna eine Krippenlandschaft auf mit einem Ziehbrunnen, Palmen und Schafen und einem Mohr, der den Kopf nickend bewegte, wenn man ihm Geld in den Schlitz vor seinen Knien einwarf.
Schön war das und vieles andere auch, was mir jetzt nicht mehr einfällt, aber auch zu uns gehört hat.
Aber nein, in einer Idylle lebte niemand.
6.
Untereinander sprachen wir Moselfränkisch, einen Dialekt, der etwas Treuherziges und Gemütliches hat und den ein Fremder nicht lernen kann. Wir zählten uns zu den Rheinländern, denen man Fröhlichkeit nachsagt. Aber fröhlich waren wir eigentlich nur an Karneval und vielleicht zu den Dorffesten. Richtige rheinische Frohnaturen waren kaum darunter. Dass das an der kargen Gegend läge, meinte Bertram. Ich solle mir mal die Weingegenden ansehen, dort ginge es anders zu.
Mit Wein, Weib und Gesang war es bei uns wirklich nicht allzu weit her. Dafür aber mit den Christenpflichten. Anders als Bertram ging ich als Kind gerne in die Kirche. Ich mochte die Heiligenbildchen, die in meinem Gebetbuch lagen. Auch die Bilder der Kreuzwegstationen gefielen mir, wenn sie auch mit einem Schauer verbunden waren. Dennoch konnte ich den Blick nicht abwenden: Wie brutal die Soldaten Jesus durch die Straßen Jerusalems trieben, wie schmerzgekrümmt er unter dem Kreuz lag. Wie gut es war, dass Simon ihm beim Tragen half und Veronika ihm ein Schweißtuch reichte. Die Nägel, das Kreuz, durchbohrte Hände und Füße – die Kirchenwände erzählten Grausames. Von den Kreuzwegbildern konnte ich immer nur einen Ausschnitt sehen. Wenn ich mich zu weit aus der Bank beugte, drehte mir meine Mutter den Kopf zurecht. »Guck nach vorne!«, flüsterte sie.
Zu Hause, über meinem Bett, hing ein Bild von Jesus mit Heiligenschein, der mit beiden Händen ein blutendes Herz mit Strahlenkranz hochhielt, aus dem ein Kreuz aufragte. Das Bild beschäftigte mich. Es schien zu pulsieren. Was machte Jesus da? Woher hatte er das Herz? Ich hatte oft beim Schlachten zugesehen und dachte, dass er es vielleicht daher hätte, obwohl die geschlachteten Herzen anders und längst nicht so schön aussahen.
Ich mochte auch die einfachen Gebete, betete ernsthaft und ehrlich, auch, wenn ich nicht alles verstand und vieles nur auswendig gelernt war. Viele Worte blieben mir ein Rätsel. Gebenedeit zum Beispiel. Ich verstand nicht, weshalb wir ständig um Erbarmen baten und wie das Lamm Gottes es schaffen sollte, uns die Sünden hinwegzunehmen. Trotzdem schien mir alles gut und lebendig, wohl, weil ich etwas zu verstehen glaubte, das über die Bedeutung der Rituale hinausging. Gleichzeitig fühlte ich mich fremd und gar nicht darin aufgehoben. Ich empfand, dass ich mit Christus leiden müsste, ob er mir nah war oder nicht. Ich verstand, dass er für uns Sünder gestorben war, also für unsere Sünden, und dass wir für die Sünden anderer leiden müssten als wären es unsere eigenen, dass wir aber im Leiden eine heilende und reinigende Kraft finden würden.
Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel kommʼ.
Die Kirche war voll damals. Nur Bertram fehlte gelegentlich, was man seinem evangelischen Vater ankreidete. »Dafür kann der Jung nix.« Dass er, wenn er kam, seine Werktagshose trug und die Haare nicht richtig gekämmt hatte, wertete man hingegen als Versäumnis der Mutter, der man nachsagte, nicht besonders ordentlich zu sein.
Für uns hingegen gab es keine Ausnahmen. Kein Widerwort. Sonntagspflicht. Wer nicht in die Kirche geht, kommt nicht in den Himmel.
Die Frisuren saßen akkurat. Auch die Kleider. Keine Knitter, keine Löcher, keine Laufmaschen. Keine Bartstoppeln. Niemand wäre in Jogginghosen gekommen.
Vorne im Altarraum eine riesige Christusfigur aus Holz, mit unnatürlichen Proportionen und trotzdem gut geraten, furchterregend groß, besonders Hände und Füße, aber das hat wohl so sein sollen. Über dem Haupt mit Dornenkrone ein Täfelchen: INRI. Jesus Nazarenus Rex Judaeorum. Riesige Nägel hatte man der Figur durch Hände und Füße gebohrt und ein viereckiges Loch in die Rippen gestoßen. Überdies war die Figur sehr mager, aber jeder wusste ja, was Jesus an seinen letzten Tagen durchgemacht hatte.
Zu Jesu Füßen der Tabernakel, das Taufbecken, der Altar, der Blumenschmuck.
Ganz vorne in den ersten Reihen die Kinder. Mädchen links. Jungen rechts. Frauenseite. Männerseite. Sogar die Heiligen, die von den Fenstern leuchteten, hatten sich dieser Ordnung unterworfen. Auf der Männerseite Aloysius, Sebastian, Antonius von Padua und der gute Hirte. Auf der Frauenseite Margaretha, Agnes, Elisabeth und Anna. Elisabeth gefiel mir am besten. Wohl wegen der Rosen, die sie in der Schürze trug, und die, je nach Licht, rote Muster auf die hellen Bodenplatten warfen.
Vom Ducksaal2 aus, wo der Chor saß und ein paar Alte, die glaubten, ein Anrecht auf einen Platz zu haben, trafen Leuchtziffern die linke Wand über einer Madonna mit Jesuskind: 257, 1. Strophe. Finger anfeuchten, blättern im Gebetbuch, Orgelmusik, Gesang: Großer Gott, wir loben dich; Herr, wir preisen deine Stärke. An der Orgel saß Lorse Maria. Alle nannten sie so, also mit dem Nachnamen zuerst. Sie dirigierte nebenbei den Kirchenchor. Schwungvoll griff sie in die Tasten, ließ gelegentlich, je nach Stück, mit den Bässen ihres Instruments den Bau fast explodieren.
Aufstehen. Knien. Sitzen. Lasset uns beten. Weihrauchgeruch.
Stehend bekannten wir unseren Glauben, indem wir uns an die Brust klopften, als wollten wir ihn damit fixieren. Die Fürbitten des Küsters, klar und kräftig vorgetragen, die Kehrreime der Psalmen, das Gemurmel der Gebete empfand ich wie Rauschen in einem Bienenstock. Ob alle sooo gläubig waren, wie sie taten, weiß ich nicht.
Wir Kinder waren gehalten, uns zu schicken. Kein Mucks. Was nicht einfach war, wenn Tante Anni hinter uns saß, die sich ständig im Text verhaspelte und beim Singen eine ungewöhnliche Oberstimme erfand, was in den Ohren schmerzte und dazu führte, dass sie aus dem Takt geriet und ihr die Puste ausging. Dann rückten wir zusammen, die Hand vor dem Mund, unterdrückten das Kichern, wurden rot im Gesicht und platzten manchmal heraus.
Später drängte sich alles an der Kirchentür. Himmes’, Krämers, Klasens, Schellens, Cornesses, Dahms, Willars’, von Landenbergs, Durrys und Arnoldys wünschten sich einen schönen Sonntag, redeten ein bisschen, alles gesund und munter, lieben Gruß zu Hause, was machen die Kleinen? Dann tauchten sie die Finger ins Weihwasser, das ein bisschen abgestanden roch, aber immer nach Segen, als sei es von der Sonne gewärmt worden.
Noch ein bisschen später sah man sie an den Gräbern stehen. Die meisten Gräber lagen um eine alte Linde, in deren Schatten am Sonntag, lange bevor die Messe endete, die Männer standen und redeten.
Damals schon bewunderte ich Bertrams Anderssein, beobachtete, was er tat, war aber gleichzeitig von ihm abgestoßen. Es hatte etwas Herausforderndes, wie er in seinen ausgebeulten Werktagshosen lässig in der Bank saß, nicht mitsang, das Brustklopfen verweigerte und den Messdienern, wenn sie in ihren rotweißen Gewändern mit Opferstöcken durch die Reihen gingen, einen mitleidigen Blick hinterherschickte und einmal sogar schadenfroh auflachte, als einer der Ministranten über eine Treppenstufe stolperte. Nein, die Gläubigen waren keine Gesellschaft für ihn.
»Der wird bald gar nicht mehr kommen«, meinten die Leute und in diesen Worten schwang genausoviel Vorwurfsvolles mit wie Besorgtes. Dass er sich nicht fügen könne, keine Regeln und keinen Anstand hätte, hörte ich sagen und sah in missbilligende Gesichter. Bertram wusste, was die Leute dachten und sagten. Es machte ihm nichts aus. Seine Überlegenheit imponierte mir. Ich hielt ihn für klug.
Sonntags nach der Messe sah ich ihn manchmal in der Pfarrbücherei. Ich verfolgte seine Bücherauswahl, merkte mir die Titel. Sobald er sie zurückbrachte, lieh ich sie aus und las, was er gelesen hatte. ›Robinson soll nicht sterben‹ war dabei, oder ›Kein Winter für Wölfe‹.
In jenen Jahren sprachen wir noch nicht über Bücher. Ohnehin redeten wir kaum. Wir trafen uns auch nie alleine, sondern immer mit anderen. Er hing