wenn du magst, aber lass dir Zeit.
Fahren wir ins Kino?
Ach nein, es kommt nichts, was mich interessiert. Geh besser allein.
Hast du Zeit?
Wenn du kommst, nehm ich mir die Zeit.
Um acht bei den Fichten?
Ja, gut. Aber warte nicht auf mich.
Überhaupt kam Bertram ständig zu spät. Besuchte er mich, blieb er meist bis in die Puppen. Er blieb, auch wenn ich todmüde war und seinen Worten kaum noch folgen konnte.
Immer hatte ich das Gefühl, dass er für mich da ist, nur für mich, dass ich also, sozusagen, eine Art Anspruch auf ihn hätte.
Er las Schopenhauer und Nietzsche, die Schriften Michel Foucaults, befasste sich mit Konstruktivismus, erklärte mir das Mandelbrot-Fraktal, die Euler’sche Identität, die binomischen Formeln und den Goldenen Schnitt. Er bespielte mir Kassetten mit Sachen von Etta James und Ella Fitzgerald. Cry me a river.
Auf dem Schulkopierer kopierte er für mich Gedichte von Brecht und Songtexte von Billie Holiday, die er mir dann in Bücher steckte, die ich gerade las.
Neben alldem brachte er es fertig, meine verborgenen Schichten aufzugraben, indem er Ideen in mir anfachte und meine Gedanken fliegen ließ.
Bertram war einer der wenigen, für den ich nichts zum Schein tat, nichts, um besser dazustehen, nichts, was nicht mir selbst entsprochen hätte. Bertram ließ mich ich sein. Einen Orden müsste man ihm verleihen, allein dafür.
Er war es, der mir die Welt deutete, für mich mit Sternen jonglierte. Ich wollte Bertram so viele gute Sachen sagen. Schöne Sachen. Dafür bleibt uns viel, viel Zeit, hatte er einmal gesagt. Vielleicht das ganze Leben.
Fast jeder war in Bertrams Haus jederzeit willkommen. Bertram konnte man aus dem Schlaf reißen, wenn es sein musste. Man konnte ihn um Hilfe fragen, wenn man einen Umzug vor sich hatte oder einen Dübel in die Wand geschraubt haben wollte. Bertram half. Man konnte ihn auch um Asyl bitten. Sogar für mehrere Wochen. Für Bertram kein Problem.
Ich erinnere mich, dass es in der letzten, mit ihm durchdiskutierten Nacht war. Wir saßen in seiner Küche, er hatte den Ofen gefeuert. Es ging um den Faust und um Geomantie und wie alles zusammenhinge. Er stellte zwei Stubbiflaschen5 auf den Tisch, die er mit einem Feuerzeug öffnete. Dabei gestand er, dass es ihm ginge wie Dr. Faustus, dass er nichts wisse und auch nichts wissen könne, dass dies allerdings der beste Zustand des Menschen sei, weil er bescheiden mache. Nichts gäbe es, was man endgültig wissen könne.
Dennoch hatte er eine eigene Vorstellung davon, was die Welt zusammenhielt. Nie wollte er so werden wie unsere Politiker, die von einem Ministeramt ins andere wechselten, korrupt seien, von nichts eine Ahnung hätten und nur laberten.
Als die Stubbis leer waren, kochte er Tee von getrockneter Pfefferminze, während er es einen Verfall der Welt nannte, dass Menschen sich anmaßen würden, alles zu besitzen, über alles zu verfügen, über Meer und Luft, über Tiere und Pflanzen, selbst über unsere Berge.
10.
So, wie alles gekommen ist, ist es schleichend gekommen und so leise, dass kaum jemand Notiz davon nahm. Viele sind fortgegangen aus unserem Dorf, auch ich.
Bertram fand es gut, dass ich ging. Kann nichts schaden, sagte er damals und meinte, dass ich dann einen neuen Blickwinkel auf alles bekäme und aus der Distanz die Dinge anders bewerten würde. »Geh und lass dich nicht halten. Der Himmel ist hoch.«
Für sich selbst wollte er keinen neuen Blickwinkel und auch keine Distanz. Er ginge nirgends hin. Bertram blieb aus Überzeugung.
Bis zu dem Tag, an dem er plötzlich verschwand.
Von einem Tag auf den anderen wurde er nicht mehr gesehen.
Nicht in seinem Haus, nicht im Dorf, nicht am Berg.
Als ich von Bertrams Verschwinden hörte, lebte ich seit Jahren nicht mehr in meinem Dorf. Ich hatte mich gewundert, weshalb von ihm keine Briefe mehr kamen, sorgte mich, versuchte ihn anzurufen, was sich schnell als sinnlos herausstellte. Vielleicht hatte er seinen VW-Bus bepackt und war nach Indien aufgebrochen. Mir kam in den Sinn, dass er einmal, es war nicht lange her, unvermittelt und ohne offensichtlichen Grund mitten auf der Straße jäh hingeschlagen war und einige Momente wie betäubt dalag. Er war weiß im Gesicht, die Lippen grau und er bekam keine Luft mehr, konnte überhaupt nicht mehr atmen und ich war starr gewesen vor Schreck, rüttelte an ihm, drehte ihn auf die Seite, bis er schließlich sagte: »Hey, du bist ja da.« Ich brachte ihn nach Hause. Danach hatte er so einen Wunsch nach Ruhe.
Vielleicht hatte er etwas, eine Krankheit, und niemand wusste davon. Bertram, komm zurück. Alles soll wieder so sein wie es war und alles soll so bleiben.
Meine Unruhe wuchs. Ich telefonierte mich durch seine Freundschaften. Es kamen nichtssagende Sätze. Dass er in letzter Zeit komisch gewesen sei, erfuhr ich.
Ich fragte meinen Chef nach Urlaub, bekam ihn und fuhr nach Hause. Über drei Monate war ich nicht dort gewesen.
Es war später Juli. Die Fahrt mit dem Zug war lang und die Schwüle im Abteil machte müde. Ab Mannheim dann Regen, der nur wenig für Abkühlung sorgte. Tropfen klatschten gegen die Scheibe. Vom Wind getrieben bewegten sie sich ruckweise voran. Einige waren schneller als andere, vereinigten sich mit den langsamen. Das Abteil war voll, ich hielt die Tasche auf dem Schoß und horchte nach dem Rattern der Räder, einem Geräusch, das sich veränderte, wenn der Zug über Weichen fuhr. Ein Kind flüsterte, eine Frau kramte in einem Beutel, Papier raschelte. Das Kind kaute.
Der Mann, der mir gegenüber saß, zog eine Zeitung aus der Tasche, blätterte und las. Auf der Rückseite war das Foto eines Radfahrers in einem gelben Trikot abgedruckt. Der Titel klang wenig spannend: »Wie geht es weiter mit der Tour de France?« Der Mann las eine Weile, dann faltete er die Zeitung zusammen, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Zeitung lag jetzt auf seinen Knien. Die fettgedruckte Schlagzeile sprang mir ins Auge: Erdoğan – der türkische Albtraum. Und: Der Islamische Staat verübt ein Massaker an den Jesiden in Kocho. Weiter unten las ich, dass sich die Hälfte aller Deutschen durch Lärm belästigt fühle. Der Bericht ging weiter auf Seite 3, wo es zudem um die Meere gehen sollte und die Belastungen, die durch Überfischung und Überdüngung entstanden waren.
Ganz unten dann noch das Foto einer winkenden Dame mit Hut: Elizabeth The Second, Queen by the grace of God. Ich erfuhr, dass die Queen das Pferderennen in Ascot besucht hat und als Besitzerin und Züchterin von englischen Vollblütern alle Rennen verfolgt, an denen ihre Tiere beteiligt sind. God save the Queen. Mitsamt den Hunden.
Ein Schaffner ging von Fahrgast zu Fahrgast, gab Auskünfte, scannte die Billets. Der Mann auf dem Sitz gegenüber wachte auf, schob die Zeitung zusammen und während er aus dem Fenster sah, sagte er völlig unvermittelt: »Es muss alles anders werden, alles.«
Draußen Straßen, Brücken, Dörfer und Mauern. Ab und zu Kirchtürme. Ein Nebeneinander von Punkten.
Hecken und Sträucher bogen sich in dem vom Zug verursachten Wind.
Die Schienen überwanden den Raum viel zu schnell. Machten ihn irgendwie gleichgültig.
Eine Schulklasse reiste mit. Kinder saßen ein paar Sitze weiter vorne und stimmten, aufgefordert von einer resoluten Lehrerin, die mit erhobenem Finger das Zeichen des Einsatzes gab, auf der Höhe von St. Goar, unterhalb des Loreleyfelsens, ein Lied an: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin …« Lange blieb mir diese Zeile im Kopf. Sie passte zur Situation; sie passte zu Bertrams Verschwinden und klang irgendwie dunkel.
In Koblenz stieg ich in einen fast leeren Waggon um. Der Zug hatte Verspätung. Trotzdem hielt er überall, auch wenn niemand ein- oder ausstieg.
Es dauerte noch über eine Stunde, bis ich ankam. Die wenigen Reisenden, die mit mir den Zug verließen, verschwanden innerhalb von Sekunden.
Bis zum Dorf waren es zwei Kilometer. Ich ging zu Fuß, entlang der Kyll.
Die erste,