Charles Dantzig

Wozu lesen? (Steidl Pocket)


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für ein kapriziöses Geschäft, kapriziös und grausam für die Autoren! So viele übersehene Talente wegen mangelnder Lektüre! Gute Leser müsste man einsperren, damit sie lesen! Man würde ihnen ein Gehalt zahlen, und sie täten nichts anderes als lesend Literatur retten! Vierundzwanzig Jahre! Nun gut, genug Dramatik. Als ich mich nun nochmals mit diesem Schriftsteller befasste, den ich seit langem nicht mehr gelesen hatte, war ich verblüfft über die Vielzahl von Sätzen, die in völlig unveränderter Form mein »Selbstporträt, gezeichnet durch Thomas Bernhard« ergeben würden.

      »Im Grunde hasse ich die Natur, sagte er immer wieder. (…)

      Die Natur ist gegen mich, sagte Glenn (…)«

      »Wir können aber aus diesem Geburtsort weggehen, wenn er uns zu erdrücken droht, von dem Wegund Fortgehen, das uns umbringt, wenn wir den Augenblick des Wegund Fortgehens übersehen. Ich habe das Glück gehabt und bin …«

      … aber ich bin es ja gar nicht. Es geht hier nicht um mich, um uns. Es hat etwas Selbstgefälliges, wenn wir in Büchern zu sehr nach dem suchen, was uns gleicht. In Bernhards Beton von 1982 findet man auch folgende Passage:

      »Wenn ich ein Buch in der Hand hatte, verfolgte sie mich solange, bis ich das Buch weglegte, sie hatte ihren Triumph, wenn ich es ihr voller Wut ins Gesicht schleuderte.«

      Und so etwas habe ich – der Gott der Lektüre kann es bezeugen – niemals selbst erlebt. Jeder Mensch ist einzigartig, das lernt man, wenn man lange genug liest und dabei immer wieder nur Fragmente seiner selbst entdeckt. Es ist nicht unser Abbild, das uns von einem Buch einnimmt, sondern das Talent. Nicht den Figuren oder Gedanken möchte man gleichen. Man möchte dem Talent gleichen.

      Der Gott der Lektüre

      Der Gott der Lektüre? … Aber den gibt es doch gar nicht. Der Mensch hat sich davor gehütet, ihn zu erfinden. Die Leser wussten nur zu gut, wie gefährlich es gewesen wäre, sich auf diese Weise aufzuspielen. Ein Werk, das Esprit und Sensibilität vereint – wie schrecklich!

      Da sich die Spezies der Leser im Übrigen durch steten Rückzug aus dem praktischen Leben unsichtbar gemacht hat, ist es durchaus verständlich, dass sie bis heute keines eigenen Beschützers bedarf.

      Gott ist auf der Bibliotheksleiter.

      Lesen, um sich auszudrücken

      Nach Beendigung seiner Lektüre wird der Leser keinesfalls in den unberührten Zustand einer leeren Datei zurückversetzt. Nein, er wurde bereichert um eine Vielzahl von Sätzen. Faszinierenden Sätzen! Sätzen, die davonflattern wie ein Halstuch im Wind und denen er bis ans Ende der Welt folgen würde. Meine Jugend wurde begleitet von einem Heine-Vers. »Ich weiß nicht was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin«. Ja, wirklich, Die Lorelei, ständig und unermüdlich sprach ich diese Worte auf Deutsch vor mich hin, berauscht davon, ein so schönes Gewand für die Traurigkeit gefunden zu haben, die ich empfand und die ich genoss. Mit der Wahl unserer Lektüre kleiden wir unsere Emotionen ein, legen uns Wörter in unsere stummen Münder, verleihen dem Grummeln unserer Gedanken Eloquenz.

      Kaum ein Satz hat mich in diesem Alter mehr beeindruckt als der von Prospero in Shakespeares Sturm (IV, 1): »We are such stuff / as dreams are made on, and our little life / Is rounded with a sleep« – »Wir sind aus solchem Stoff / wie Träume sind, und unser kleines Leben / ist von einem Schlaf umringt.« Überall schrieb ich ihn nieder, murmelte ihn vor mich hin, versuchte, den Sinn zu ergründen, der mich erleuchtet hatte. Oder dies: »Die Nuance, Feindin der Finesse«, von Balzac. Beim Blättern in einem Taschenbuch war ich darauf gestoßen, als ich im Sommer in einem Buchladen arbeitete. Dummerweise hatte ich das Buch zugeklappt und weggestellt, nur um schon zwei Minuten später und für die nächsten zwanzig Tage vergeblich nach der Textstelle zu suchen. Im Grunde zwanzig Jahre lang, denn ich habe sie bis heute nicht wiedergefunden, zumal ich nach einer Weile vergessen habe, um welches Buch von Balzac es sich eigentlich handelte. Oh, du Phantom, wirst du dich vielleicht an meinem Lebensabend offenbaren und mir aus einem seiner Bücher unverhofft entgegenlächeln? Und so werde ich dann, noch bevor ich den Satz zu Ende gelesen habe, meine letzte Ruhe finden.

      Ein Tanz im Verborgenen

      Bücher sind mehr als Gegenstände, in denen Dinge stehen, die wir suchen und gedankenlos verschlingen. David Grossman spricht in Die Kraft zur Korrektur (2008) von »Büchern, die ihn gelesen haben«. Da ist schon etwas dran: Als Leser ist man den Büchern ausgeliefert.

      Bücher leben von ihren Lesern. Sie müssen von ihnen besprochen werden. So verbreitet sich in Teilen des öffentlichen Bewusstseins eine bestimmte Sichtweise, die eben das ist, was die Literatur beisteuern kann. Ideen sind nicht das, was Literatur ausmacht. Es sind die Beobachtungen aus einer so persönlichen Perspektive, dass von ihnen ein ganz eigener intellektueller Reiz ausgeht, dem begeisterte Leser erliegen.

      Solche Leser spazieren durch die Straßen, und man merkt ihnen äußerlich nichts an; könnte man jedoch in sie hineinschauen, so sähe man … bei ihr, ja … bei ihm auch … er, nein, er ist undurchsichtig. Und bei dem da ist auch nichts zu sehen, der ist vollgestopft mit Zahlen. Aber er, ja … Und sie … Könnte man in sie hineinschauen, sähe man einen selbstvergessenen Tanz tausender Büchernarren auf der ganzen Welt.

      Lesen belebt neu

      Wir lesen aus purem Egoismus, bewirken damit jedoch ungewollt etwas Altruistisches. Denn durch unsere Lektüre hauchen wir einem schlafenden Gedanken neues Leben ein. Was ist ein Buch, wenn nicht Dornröschen, was ist ein Leser, wenn nicht ihr Märchenprinz, selbst wenn er eine Brille trägt, kaum noch Haare auf dem Kopf hat und achtundneunzig Jahre auf dem Buckel? Ein geschlossenes Buch existiert, aber es lebt nicht. Es ist ein Quader, wahrscheinlich mit einer feinen Staubschicht bedeckt und nichts als eine leere Schachtel. Man könnte sagen, jede Lektüre ist eine Wiedererweckung. Mallarmé hat übertrieben, als er behauptete, der Leser sei der Schöpfer eines Gedichts. »Wiederbeleber« hätte genügt. Wir sind erwachsen genug, um den Leser, so wichtig er auch sein mag, nicht mit dem Schöpfer eines Werkes zu verwechseln.

      Lesen, um die Leichen nicht ruhen zu lassen

      Der Leser ist keineswegs so passiv, wie er glaubt. Dem Anschein nach ein Monolog, ist die Lektüre eine Form der Konversation. Im Übrigen ist das, was man gemeinhin als Konversation bezeichnet, in aller Regel nur ein brillantes Selbstgespräch, dem ein begeistertes oder geduldiges Publikum Gehör schenkt. Beim Lesen wird ein lethargisches Denken wachgerüttelt durch ein scheinbar passives. Dabei wirken zwei Stimulanzien: die Sensibilität und die Erinnerung. Diese entscheiden darüber, welche Passagen uns berühren und wo wir die empfindsame Seite der Literatur finden. Sie und die Lektüre, ihre magere Kusine, haben das Beben gemeinsam. Ein geschriebener und gelesener literarischer Satz unterscheidet sich von denen anderer Textformen durch eben dieses Beben, das wiederum in der Unreinheit der Literatur ihren Ursprung hat.

      Ich neige ein wenig dazu, Wörter in ihrem ursprünglichen Sinn zu verwenden, ohne Rücksicht auf die Konnotationen, die ihnen der Sprachgebrauch verliehen hat, und das ist ein Fehler. Der Sprachgebrauch schiebt einen bunten Filter vor die meisten Wörter. Wenn ich nicht darauf hinweise, dass ich Wörter ohne diesen Filter verwende, werden sie aller Welt in Farbe erscheinen und keinem so wie mir. Dabei möchte ich behaupten, dass die Verwendung von Wörtern in der Bedeutung, die ihrer Entstehung am nächsten ist, Sätze erzeugt, die den Leser stutzen lassen und seine Neugier wecken; wenn er ihren Sinn begriffen hat, wird er Geschmack daran finden, mehr zu verstehen als andere. Auf diese Weise ließe sich ein Club der Connaisseure gründen. Manchmal, etwa im Fall von Proust, werden solch elitäre Zirkel zu Massenveranstaltungen.

      Zu wissen, dass man am Anfang nur eine Gruppe von Tausend war, reicht für das Selbstverständnis aus. Was für eine versnobte und naive Idee. Nun ja, sagen wir, sie hat etwas Japanisches: Wir sind die kleine Schar derer, die gewillt sind, eine Sache zu bewahren,